Der Mythos Menschlichkeit

Ich stelle fest, dass ich immer noch moralische Hemmungen habe, mich wie so n Creep auf politisch ausschlachtbare Nachrichten zu stürzen, sie zu dramatisieren und aufzubauschen, um die Wut zu erzeugen, die notwendig wäre, um tatsächlich etwas zu ändern. Immer wieder suche ich bei Zornesgründen nach weiteren Quellen, widersprechenden Aussagen, anderen Thesen. Ich recherchiere und verifiziere Informationen als hinge irgendetwas Bedeutendes davon ab. Als wäre es wichtig, möglichst nah an der Wahrheit zu bleiben. Ich relativiere dabei nur meine Wut und kontrolliere meine Affekte. Ob das gut ist? Ich weiß es nicht.

Andere sind nicht so. Jemand weint in die Kamera, dass es jemanden gibt, der jemandem zugehört habe, der von jemandem gehört hat, dass in XYZ von ABC 40 Babys enthauptet und an Wäscheleinen hängend zur Schau gestellt wurden. Ob vor oder nach deren Vergewaltigung ist unklar. Und gebacken wurde sie auch noch. Zum Schutz der Zeugen müssen aber alle anonym bleiben. Hochrangige Militärs bestätigen das Geschehen, Regierungschefs erklären ihre Bestürzung, das Internet tobt. Das Kollektiv der Tatverdächtigen wird immer klar benannt. Die Unschuldsvermutung ist Schnee von Gestern. Die Hausfrau aus der Eiffel und der CDU-MdB fordern im Kanon: Diese Monster müssen sterben.

Später gibt es dann detaillierte Recherchen in Nischenportalen, die belegen, warum das so nicht passiert sein kann. Diejenigen, die sich zuvor von Tränen schwer und aggressiv empört in Gewaltfantasien erschöpften, um die vermeintlichen Täter möglichst brutal und ohne Zwischenweg über ein Rechtssystem zu bestrafen, nehmen aber nichts von ihrer Gewalt zurück. Sie korrigieren sich nicht, sie blockieren dich höchstens. Sie haben auch schon wieder andere, aktuelle Gräueltaten im Portfolio, denn die werden ohnehin massenhaft angeboten.

Und es hört einfach nicht auf: Jeden Tag gibt es eine neue Gräueltat, die jene ganz ganz fürchterlich wütend macht, die auch glauben würden, im Himmel wurde der Weihnachtsmarkt von der Hamas angegriffen, die Rentiere geköpft und vergewaltigt und die Christkinder im Ofen gebacken. Und das Internet vergisst nichts. Der Hass bleibt auf ihren Kanälen abrufbar und auf ewig Teil der Datenbasis.
Dazwischen dann wir, sehenden Auges: Wir sehen, wie die rassistische Mobilmachung sich intensiviert. Wir sehen, wie der Hass gedeiht, was das alles für politische Auswirkungen hat, wie Hass das Denken derjenigen gestaltet, die das alles glauben wollen. Wir sehen, wie wenig Chancen auf Prominenz jede relativierende Gegenerzählung hat. Und wir sehen, wie jeder Widerspruch kaum bemerkt im Nichts verendet. Und wir können nichts dagegen tun.

Eigentlich muss man die rassistische Mobilisierung kippen, in dem man sie zum Platzen bringt, also mit massenhaft Stuss füttern und sie bei vorhersehbarer Empörung dafür blamieren. Man sollte den Hass mit noch mehr Hass trollen, statt zu versuchen, den Hass mit Fakten zu kontern. Weil die Fakten sowieso niemanden interessieren, denn sonst würden sie wegen Gerüchten nicht gleich ihre Maske der Menschlichkeit zerreissen. Aber das ist nur so eine Theorie. In der Praxis müssen wir mit den Ressourcen arbeiten, die da sind und da bleibt es dann bei ein bisschen Widerspruch im Netz – bis zur Blockierung.

Aber das Wissen darum, dass so viele Menschen in unserer Nachbarschaft so leicht dazu zu bringen sind, öffentlich in Gewaltfantasien zu schwelgen und sie sich nicht dafür verantworten müssen, wiegt schwer und macht Angst. Für deren Feindbilder bedeutet es Lebensgefahr. Vielleicht ist es darum nur unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die zornige Hausfrau samt Ehemann nie tatsächlich eine Waffe in die Hand bekommt oder wenigstens unfähig bleibt, eine solche zu bedienen. Und wenn sie es lernt, lassen es auch die knappen Ressourcen zu, wenigstens zwischen ihnen und ihren Zielen im Weg zu stehen.