Interview mit Stadteilaktivistin

Corona und politischer Aktivismus (Interview) – Covid19 & Lebensrealität unserer Klasse

Lisa ist 27 und politische Aktivistin. Sie organisiert praktische Solidarität in der Nachbarschaft. Außerdem hat sie mit ihrer Organisation eine Kundgebung abgehalten, um auch über die politischen Folgen der Corona-Krise aufzuklären.

Lisa, wie funktioniert eure Nachbarschaftshilfe?

Wir haben im letzten Jahr einen Stadtteilladen eröffnet. Ziel des Projekts ist es, die Selbstorganisation der Menschen im Viertel zu stärken und kollektive Lösungen für Probleme, die uns alle betreffen, zu finden. Es war also klar, dass wir jetzt aktiv werden müssen, denn die Corona-Krise verschärft die sowieso schon vorhandenen sozialen Ungleichheiten und erschwert den Alltag der Menschen enorm. Es war ja klar, dass wir von der Politik keine Hilfe zu erwarten haben. Deshalb starteten wir einen Aufruf und verbreiteten ihn im Stadtteil mit Aushängen. Wir haben eine Mailadresse und eine Telefonnummer eingerichtet, die von morgens bis abends betreut wird. Es meldeten sich zunächst viele HelferInnen, die z.B. Menschen der Risikogruppe bei täglichen Besorgungen und Ähnlichem unterstützen wollen oder Hilfe bei Kinderbetreuung und Schulaufgaben anbieten. Aber auch die ersten Hilfegesuche gehen ein. Diese vermitteln wir an die HelferInnen. Außerdem haben wir Schutzausrüstung und Desinfektionsmittel besorgt und uns in Rücksprache mit einer Ärztin über die empfohlenen Hygienemaßnahmen informiert, die man gegenüber Menschen der Risikogruppe anwenden muss. Darüber klären wir die HelferInnen auf, damit wir niemanden gefährden.

Wie verlief eure Kundgebung? Wie waren die Reaktionen der Menschen?

Wir haben die Kundgebung unter Wahrung aller hygienischen Empfehlungen und mit ausreichend Abstand untereinander und zu den PassantInnen abgehalten. Wir informierten über unsere Nachbarschaftsinitiative und nutzten die Gelegenheit, um unsere Kontaktdaten zu verbreiten. Außerdem verlasen wir Texte über die Auswirkungen der Krise auf das Leben der Menschen und verkündeten unsere Forderungen.

Die Reaktionen waren positiv, die Menschen hielten zum Zuhören an und einige nahmen auch unsere Broschüre entgegen – wir trugen natürlich alle Handschuhe und Mundschutz. Wir hatten uns durchaus auch auf negative Reaktionen eingestellt, weil Medien und Politik eine regelrechte Hysterie schüren. Da werden Kinder auf Spielplätzen und Jugendliche, die sich draußen auf ein Bier treffen, wie Schwerkriminelle behandelt und allein für die Ausbreitung des Virus verantwortlich gemacht. Die Verantwortung liegt aber bei denen, die um jeden Preis Profite machen wollen. Dass sich die Leute vor allem auf der Arbeit anstecken werden, ist den Mächtigen völlig egal. Will man die Pandemie ernsthaft eindämmen, müssen auch Fabriken, Büros und Callcenter schließen.

Auch auf die Reaktion der Polizei waren wir gespannt. De facto gibt es noch kein Versammlungsverbot, aber nahezu die gesamte politische Widerstandsbewegung in der BRD hat ihre Aktivitäten bis auf Weiteres eingestellt. Seit Tagen gab es kaum Kundgebungen oder sonstige Versammlungen. Wir haben uns auf repressive Maßnahmen eingestellt, waren aber dennoch entschlossen, unser Versammlungsrecht durchzusetzen. Am Ende ist heute vielleicht der letzte Tag, an dem man sich auf unbestimmte Zeit überhaupt noch versammeln darf. Das wollten wir nicht ungenutzt lassen und unsere Forderungen auf die Straße tragen. Letztendlich gab es aber gar keine Probleme.

Welche Forderungen hast du?

Alle Betriebe, die nicht lebensnotwendig sind, müssen schließen – bei vollem Lohnausgleich für die ArbeiterInnen versteht sich. Das gleiche gilt für Menschen, die Angehörige zu versorgen und zu betreuen haben. Diejenigen, deren Arbeit unbedingt benötigt wird, müssen eine Gefahrenzulage erhalten. Es geht hier um Pflege- und Gesundheitspersonal, VerkäuferInnen, Angestellte der Lieferdienste sowie der Logistikbranche, HandwerkerInnen und Angestellte in der Energie- und Versorgungsindustrie. Die Schule muss pausieren, alle anstehenden Prüfungen verschoben werden. Nur wenigen SchülerInnen wird es möglich sein, sich den Stoff ohne die Unterstützung durch Lehrkräfte zu erarbeiten. Es braucht unbedingt dezentrale Unterbringung für Geflüchtete und Obdachlose. Zwangsräumungen und Strom- und Wassersperren sind aufzuheben. Nicht wir sollten die Kosten dieser Krise bezahlen, sondern die Konzerne. Aber die Politik tut gerade das Gegenteil: Den großen Unternehmen werden Kredite in unbegrenzter Höhe zur Verfügung gestellt. Es wird von unten nach oben umverteilt. Genauso sollten alle Sanktionen der Ämter oder Ersatzfreiheitsstrafen in Gefängnissen wegfallen. Auch eine Ausgangssperre muss verhindert werden. Soziale Isolation kann das Übertragungsrisiko sicherlich eindämmen, aber de facto bedeutet sie, dass die Ärmsten auf sich gestellt werden, auch Frauen und Kinder sind vor häuslicher Gewalt und sexuellem Missbrauch gar nicht mehr geschützt. Viel sinnvoller wäre es, allen Menschen kostenlose Tests zur Verfügung zu stellen. Das würde gezielte Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung des Virus ermöglichen. Aber stattdessen wird die Pandemie instrumentalisiert, um unsere Grundrechte einzuschränken. Diese müssen jetzt verteidigt werden, um weiterhin politisch wirken zu können. Es darf daher keine Einschränkungen der Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit geben. Auch unsere Persönlichkeitsrechte müssen geschützt werden. Corona darf nicht zum Vorwand für den weiteren Ausbau eines Überwachungsstaates werden.