Sozialer Protest ist keine unbefleckte Empfängnis

Anstatt gegen einzelne Akteure der Coronaproteste zu wettern, sollte die Linke die Abwälzung der Krisenlast auf die Arbeiterklasse bekämpfen.

Ein Kommentar von Richard Sorge

In Magdeburg hat das antifaschistische Protestbündnis „Solidarisches Magdeburg“ eine Petition gestartet. Dort heißt es, Magdeburg sei eine vielfältige, solidarische Stadt, deren Bürger*innen sich klar von menschenverachtenden Ideologien und rechten Akteur*innen distanzieren.

Abgrenzung gegen Nazis im Landtag (Magdeburg)

Dass dem nicht so ist, scheint für die meisten offenkundig. Man ringt nicht nur in Magdeburg seit jeher um die Deutungshoheit über das Image der Stadt. „Wir distanzieren uns.“ Es ist die letzte Phrase, welche sich die Zivilgesellschaft online noch über die Lippen pressen kann. Eine letzte Selbstvergewisserung auf der richtigen Seite zu stehen. Kurz nach der Veröffentlichung der Petition, überrennen Coronaleugner, Impfgegner und AfDler in Magdeburg ein paar Polizeiketten und zeigen, wer momentan die Deutungshoheit in der Stadt besitzt. Die Bestürzung ist – wie so häufig – enorm.

Wie gehen wir als Linke mit solchen Protesten um? Sind sie sozialer Protest, Ausdruck Anti-wissenschaftlicher Haltung oder kleinbürgerlicher Wünsche nach Normalität im Kapitalismus? Und wo steht die Linke? Zurzeit höchstes als Zuschauerin am Rande.

Krisendiskussionen

Viele eint das Bedürfnis zum kapitalistischen „Normalzustand“ zurückzukehren. Die Ursachen für die Krise werden unterschiedlich bewertet. Für viele Linke sind es die Impfgegner und Nazis, die den Weg in die Normalität versperren. Nur am Rande wird neoliberale Sparpolitik kritisiert. Sozialisten und Linke haben nicht die Aufgabe den nationalen Schulterschluss mit den Herrschenden zu suchen. Ihre Aufgabe ist es, die arbeitende Klasse zu organisieren und die Ursache für die Krise aufzuzeigen.

Dazu gehört es dann eben auch, die herrschende politische Elite und die Konzerne öffentlich vehement anzugreifen. Das jedoch gelingt der Linken nicht, weil wir zahlenmäßig wie auch ideologisch zu schwach sind. Bei vielen Themen reproduzieren viele die herrschende Logik bereits. Aus diesem Grund gibt es keine linke Opposition. Deswegen ist es für AfD und Querdenker leicht solche Proteste mit ihren reaktionären kleinbürgerlichen und nationalistischen Inhalten anzuführen.

Das Impfthema ist ein Nebenschauplatz der Auseinandersetzung. Die Linke muss die Pandemie vor allem als Krise des bürgerlichen Staates und dessen Institutionen verstehen und auch so handeln: Solidarität entwickeln und die Wut auf die Herrschenden kanalisieren, Rassismus und Klassenspaltung bekämpfen.

Linke sollten den Menschen zur Impfung raten, aber gleichzeitig kritisch gegenüber den Herrschenden und den Konzernen sein, die daran verdienen. Impfgegner davon zu überzeugen, wäre ein aussichtsloser Spagat über einen Wasserfall. Die Frage ist vielmehr: Warum ist die Linke nicht auf der Straße und nutzt die gesellschaftlichen Verwerfungen, welche die Krise des Kapitals mit sich bringt für die soziale Frage?

Wo ist die Linke?

Nicht auf der Straße. Dazu herrscht offenbar eine falsche Vorstellung von der Rolle des bürgerlichen Staates an sich vor. Dazu addiert sich fehlendes Klassenbewusstsein und eine strukturelle Unfähigkeit den sozialen Moment solcher Proteste für sich zu nutzen und gleichzeitig die reaktionären Elemente zu verdrängen. Der Moment der Einflussnahme ist sicherlich längst vorbei. Mittlerweile sind die AfD und ihr ideologisches Umfeld Treiber der Proteste in ganz Sachsen-Anhalt. Sie kann das, weil sie als angebliche Opposition gegen den Staat auf der Straße bereits etabliert ist. Das ist die Linke seit den Hartz-IV-Protesten nicht mehr. Die Gründe hierfür­ würden den Rahmen sprengen­.

Die Montagsdemonstrationen gegen die Einführung von Hartz IV 2004, welche in Magdeburg ihren Ursprung hatten, waren auch von Anfang an von organisierten Faschisten besucht. Von Beginn an wurde militant gegen Faschisten vorgegangen. Wochenlang wurde sich montags auf Magdeburgs Straßen um die Deutungshoheit dieser Proteste geprügelt. Erfolgreich. Genau das ist die Aufgabe einer antifaschistischen klassenkämpferischen Linken.

Zum Anfang der Coronakrise versuchten einzelne Gruppen durch Kampagnen wie #nichtaufunseremrücken Akzente zu setzen und den Unmut sozial zu kanalisieren. Leider jedoch ohne große Resonanz. Mittlerweile hat sich die Linke auf Kritik an den Coronaprotesten und eine teils sehr pauschalisierende Verteidigung der Coronamaßnahmen beschränkt. Selten werden 2G- oder 3G-Regeln, der Einsatz des Militärs in Impfzentren oder der ausufernde Überwachungsstaat öffentlich hinterfragt.

Wenn Jens Spahn (CDU) oder Malu Dreyer (SPD) vorschlagen positiv getestete ArbeiterInnen im Kranken- und Pflegesektor trotzdem einsetzen zu wollen, auf der anderen Seite für eine allgemeine Impflicht im Pflegesektor werben, ist ihr Klassenstandpunkt klar. Sparen und Ausbeuten ohne Rücksicht auf die Gesundheit der Pflegekräfte & der Kranken. Für Menschen mit notwendigen Operationen oder anderen Krankheiten sinkt die Überlebenschance durch das dezimieren mittels einer Impflicht im privatisierten Gesundheitssektor objektiv noch weiter. Also lieber noch weniger, eventuell erkrankte, PflegerInnen als ungeimpfte? Ein Frage die sich schwerkranke & alte Menschen wohl momentan stellen. Der Widerspruch ist klar und wird auf unser aller Rücken ausgetragen – es ist Zeit die Vergesellschaftung des Gesundheitssystems zu fordern.

Doch statt zu erkennen, dass der bürgerliche Staat seine Aufgabe in einer Krise des Kapitalismus sehr wohl wahrnimmt, denken viele Linke, an diesen appellieren zu müssen. Es wird nicht mehr opponiert, sondern gebettelt. Missmanagement, Unfähigkeit, Inkompetenz. Sicherlich alles richtig, aber auch nur Ausdruck des kapitalistischen, bürgerlichen Staats. Er tut genau, was er soll. Der Staat als „ideeller Gesamtkapitalist“ hat die Aufgabe, „die allgemeinen äußern Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise aufrechtzuerhalten gegen Übergriffe sowohl der Arbeiter wie der einzelnen Kapitalisten“(1) . In dieser Logik gibt es keinen Widerspruch zwischen einem kaputt gesparten Gesundheitssystem und Subventionen für Konzerne.

Protest gegen die Spar-Politik und Ausbeutungs- Logik

Die Aktionslinke begibt sich derweil inhaltlich auf ein Feld, welches für die meisten Linken Neuland ist: wissenschaftliche Analyse. Trotzdem scheuen sich einige nicht, Urteile über die Gefährlichkeit von Viren und Impfstoffen abzugeben. Ungeimpfte werden zur Verantwortung gezogen für überfüllte Krankenhäuser. Doch ist man kein Virologe, sollte man auch nicht auf dieser Ebene diskutieren. Wir sollten wissenschaftliche Fakten und Erkenntnisse anerkennen, aber so wenig wie möglich Angriffsfläche auf unsere soziale Argumentation bieten.

Krankenhäuser sind zu aller erst überlastet weil sie kaputt gespart werden, nicht weil viele Menschen aus unterschiedlichsten Gründen krank sind.

Impfen & Systemkritik

Vielleicht wäre etwas mehr marxistischer Dogmatismus notwendig, um nicht in jeder Krise des Kapitals wieder in Diskussionen über deren Verursacher und Nutznießer zu verfallen. Doch dem Großteil der Linken in Deutschland fehlt ein dialektisches Verständnis von den herrschenden Verhältnissen. Sie verschiebt die Ursache weg von struktureller Kritik hin zu individueller Verantwortung, genau wie die „Merkel muss weg“ schreienden Querdenker. Was hilft es also momentan gegen die Impfverweigerer zu demonstrieren, wenn das Problem strukturell ist? Wer Krankenhäuser privatisiert und schließt, der handelt gegen die Klasse und verschärft die Pandemie.

Der Virus ist real. In ihm liegt die Ursache für diese Pandemie. Eine Krise wird es, weil wir in kapitalistischen Verhältnissen leben, die ein soziales und nachhaltiges Handeln des Staates von vornherein ausschließen. Ob sinnvoll oder nicht, unsere Freiheiten werden von einem Staat eingeschränkt, der zuallererst einmal ein Staat des Kapitals und der Konzerne ist. Deswegen sind Masken und Tests nicht kostenlos, aber Konzerne werden subventioniert. Deswegen gibt es auf dem Weihnachtsmarkt keine Bratwurst für Ungeimpfte, aber Fließbandarbeit und volle Züge für alle.

Proteste von Pflegekräften in Hamburg auf einer „Corona Demosntration“

Pharmakonzernen ausschließlich ein Interesse an unserer Gesundheit zu attestieren, ist zudem naiv. Und auch wenn man für das Impfen ist, sind Kritik und Misstrauen gegen diese Konzerne weiterhin essentiell. Wir sollten nicht vergessen, welche enormen Summen Pharmakonzerne in dieser Pandemie verdienen. Die Welt ist im wahrsten Sinne des Wortes abhängig von ihnen.

Abhängig von Pharmakonzerne wie Johnson & Johnson welche bspw. durch die Vermarktung von Fentanyl gemeinsam mit anderen Pharmakonzernen in den USA jährlich ca 50,000 Menschen töten. Das sind fast doppelt soviel Menschen wie jährlich in den USA durch Schusswaffen sterben. Das gilt es zu kritisieren.

Was tun?

Es sollte der Linken nicht darum gehen, Freiheiten oder den Normalzustand wiederherzustellen. Wir müssen die Einschränkung von Freiheiten als Ausdruck dafür benennen, dass die Krise des Kapitals, nicht aber die Pandemie bekämpft werden soll. Wir sollten die Krise nutzen, um unsere Argumente öffentlich gegen die Herrschenden zu richten und die Klassenwidersprüche herauszustellen. Wer ein Ende der Pandemie will, muss die Systemfrage stellen.

Gleichzeitgig müssen wir die aktuellen Maßnahmen immer von unserem Klassenstandpunkt aus bewerten. Deshalb ist die gesellschaftliche Spaltung in Geimpfte und Ungeimpfte keine Antwort vielmehr gilt es sie zu überwinden

Wir sollten kritisieren, dass der medizinische Kampf gegen die Pandemie Großkonzernen überlassen wird und dass Krankenhäuser zu Fabriken umgebaut werden.

Wir sollten propagieren, dass das Tragen von Masken und regelmäßiges Testen zum Schutz anderer wie unserem eigenen notwendig sind.

Wir sollten kritisieren, dass keine kostenlosen Tests in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Und wir sollten uns fragen, wie wir die gesellschaftliche Debatte um die Impflicht vor allem die Im Pflegesektor nutzen können, um soziale strukturelle Fragen in den Fokus zu drängen.

Wir sollten fordern das trotz Millioneninvestitionen geschlossene Krankenhaus in Havelberg wieder geöffnet wird.

Jede Krise ist immer auch eine Chance auf Veränderung.

#nichtaufunseremrücken

1) Friedrich Engels: „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“,