Das würde ich gern mal sagen, bin aber unsicher. Tatsächlich verlangt meine Mutti von mir, dass ich jeden Morgen ein „Guten Morgen“ in die Whatsapp-Familiengruppe schreibe. Vergesse ich das, bzw. schreibe nicht vor ihrem Erwachen in die Gruppe, antwortet sie erst mit 3 Fragezeichen und steigert die Vehemenz ihrer Sorge bis zum Anruf im Büro oder zu Hause. Meistens Beides. So weit kommt es aber nur selten. Regelmäßig leiste ich präventiv Gehorsam wie ein eifriges Schuldkind beim Tafeldienst. Aber ich bin jetzt über 50 und bilde mir ein, mein Leben im Griff zu haben. Dennoch: Meine Mutti weiß es besser. Nur wegen ihrer Nachfrage, trete ich den Weg zur Arbeit an und nur, wenn ich ihr mitteile, angekommen zu sein, ist das auch wirklich der Fall.
Ein paar Mal habe ich Versuche unternommen, ihr zu erklären, dass ihr kontrollierendes Verhalten toxisch ist und dass es mir nicht gut tut. Aber sie erklärt mir, dass sie eben so sei und ich das bis jetzt ja auch mitgemacht habe und so kurz vor ihrem Tod – TOD!- daran nichts mehr zu ändern sei. Gehorsam ist tatsächlich für mich der einfachere Weg. Also erinnere ich mich jeden Morgen selbst daran, dass meine Mutter, die eigentlich nicht mehr viel ohne meinen Vater kann, mich für lebensunfähig hält und ihre Sorge für lebensbegleitende Fürsorge.
Eine zeitlang habe ich für das morgendliche Ritual eine App benutzt. Ein Automatismus erschien als Lösung. Die Digitalisierung schreitet voran, so kleine Hilfsmittelchen hätten auch meiner Emanzipation dienen können. Aber der Versuch ging schief. An einem Tag schrieb „ich“ zweimal „Guten Morgen“ und sie rief mich an und fragte, was los sei. Ich entschuldigte mich damit, ein zweites Guten Morgen im falschen Chat abgesetzt zu haben und schaltete umgehend den Automatismus aus. Zu viele Fehlerquellen.
Ich werde also weiterhin jeden Morgen ein „Guten Morgen“ absetzen und hoffe, dass es vor meiner Mutters Erwachen ankommt. Aber ich werde nie wieder den Livestandort mit ihr teilen – auch auf die dringende Bitte meines Vater hin.
Und ich rate allen Müttern:
Eure Kinder brauchen euer Vertrauen, nicht eure Sorge. Manchmal ist die Ankunft tatsächlich wichtiger als die Auskunft darüber.