Corona

Ausgangssperre & Kriegstraumata – Covid19 & Lebensrealität unserer Klasse #3

Ich zähle noch einmal die Kapseln nach. Ich habe noch genug für einige Wochen. Der Arzthelfer kann mir einen schnellen Termin beim Psychiater geben, nächste Woche bekomme ich das neue Rezept:

Weitere Blister voll Psychopharmaka. Antidepressiva der Sorte SNRI. Helfen sollen sie bei PTBS, auch bei Angst- und Panikattacken.

Genau davor habe ich jetzt Angst: Es ist die Angst vor der Angst. Jeder, der es bereits erlebt hat, kann mit einem unangenehmen Gefühl in der Bauchgegend bestätigen, dass es die schlimmste Form der Angst ist.

Der Auslöser für diese Situation ist die Ansage der Ausgangssperre aufgrund des Coronavirus. In meinem Kopf findet gerade ein Krieg statt. Krieg zwischen zwei völlig gegensätzlichen Parteien. Die Argumente der Verteidiger: Die Entscheidung ist gut, sie ist wichtig, um das Überleben von unseren Mitmenschen zu sichern. Sie ist unentbehrlich, um unser Gesundheitssystem nicht völlig zum Kollaps zu bringen. Vor allem aber ist sie das einzig Solidarische, was wir zurzeit machen können. Die Waffen der Angreifer: Meine persönlichen Erlebnisse und Gefühle, die ich mit Ausgangssperren verbinde.

Für Menschen, die Kriege erlebt haben, bedeutet das Aussprechen des Begriffs „Ausgangssperre“, dass das Gehirn sich seinen Weg durch Verdrängtes zu unseren dunkelsten Kapiteln gräbt. Getriggert von dem Wort stehen wir dann physisch in der Sicherheit der Wohnung einer mitteleuropäischen Stadt, aber unser Innerstes erlebt gerade die brutalen Folgen der Ausgangssperre eines Ortes in Myanmar, Palästina oder Nigeria durch. Die Ausgangssperre läutete den Übergang ein: Die Phase der unauffälligen Diskriminierung und leisen Unterdrückung ist vorbei, es fängt die direkte Bekämpfung der Bürger an. Mit der Ausgangssperre wurde dem Militär offiziell Macht über Menschen verliehen und das universelle Spiel des Krieges eingeläutet: Verstecke dich vor der Uniform. Spielzeit: Ungewiss. Spieleinsatz: Dein Leben.

Bilder, die jetzt in den Kopf steigen, sind völlig unsortiert und jeder Versuch sie abzuschütteln führt zu einer weiteren Flut von Bildern oder Emotionen, die dir hartnäckig vermitteln wollen: Du bist immer noch hier. Hier im Krieg. Du wirst angegriffen und es kann jederzeit vorbei sein.

Das häufigste Bild: Ein kleines Mädchen, dass die gesamte Nacht in einer Schule oder einer Kirche auf dem Boden sitzt, zusammen mit einer großen Gruppe von Menschen, alle am Warten und Schweigen. Warten, dass die Bombenangriffe endlich vorbei sind. Dabei studiert sie die Gesichter der Erwachsenen, jener, die ihr täglich durch ihre Mimik sagen, was gut ist und was nicht. Nun aber sind sie leer, bestehen fast nur aus großen schweigenden Augen.

Das kleine Mädchen war ich. Damals im Krieg auf der anderen Seite der Welt. Jetzt bin ich eine erwachsene Frau in der Coronazeit in Deutschland. Durch bestimmte Trigger kommen die Welten zusammen, dann steht das kleine ängstliche Mädchen hier und weint wegen der an sich sinnvollen Regelung zur Ausgangssperre.

Dieser Text soll sicher keine Propaganda gegen Ausgangssperren sein, bitte nicht missverstehen. Ich möchte damit nur aufzeigen, dass die aktuelle Situation, die für Einige vor Allem den Verzicht auf den nächsten Kneipenbesuch oder Urlaub bedeutet, für Andere den täglichen Kampf gegen furchtbare Symptome darstellt.

Shanti