Burnout

Nach dem Burnout ist vor dem Burnout

Bildungsminister Tullner treibt Lehrer in Verzweiflung.

In Sachsen-Anhalt gibt es zu wenige Lehrkräfte. Die Pädagogen werden zwischen den Vorgaben des Bildungsministers und den realen Bedingungen in den Schulen zerrieben. Eine Lehrerin gibt nach ihrem Burnout Einblicke in ihren Arbeitsalltag.

Der Bildungsminister von Sachsen-Anhalt, Marco Tullner, hat zugegeben, dass offiziell nicht mehr alle Schulstunden abgedeckt werden können. Unterricht muss wegen Lehrermangel ausfallen. Doch die Überbelastung der Lehrkräfte beschäftigt nicht nur die Politik, sondern besonders die Pädagogen selbst. Die Lehrerin Petra Meyer* stellt im Interview den stressigen Arbeitsalltag in einer Lernfabrik dar und erzählt, wie sie und ihre Kollegen unter diesen Bedingungen an ihre Grenzen stoßen.

Petra, du bist Lehrerin an einer Sekundarschule in Sachsen-Anhalt. Welche Aufgaben hast du als Pädagogin an deiner Schule?

Ja, Aufgaben einer Lehrerin in der Praxis sind nicht so, wie man sich das vorgestellt hat, als man Lehramt studiert hat, sind nicht unbedingt so, wie man das in der Theorie gelernt hat, nämlich Unterrichtsstoff zu vermitteln. Heutzutage ist man mehr Sozialarbeiter, Inklusionshelfer, Integrationshelfer und Migrationshelfer. Ja, Unterrichtsstoff zu vermitteln, kommt leider erst an fünfter Stelle. Die Schüler haben viele soziale Probleme. Wir bräuchten viel mehr Personal, damit wir uns um jeden Schüler kümmern können. Ein Sozialarbeiter kann diese große Aufgabe nicht alleine bewältigen. Mit mehr Personal könnte man viele soziale Konflikte besser händeln. Und die Lehrer müssten nicht die Hälfte des Unterrichts zum Lösen von Schülerkonflikten opfern, sondern könnten Wissen vermitteln.

Nun wird oft über Inklusion diskutiert. Wie wird das bei euch in der Schule umgesetzt?

Bei uns an der Schule wird das Thema tatsächlich progressiv behandelt. Wir haben spezielle Schüler mit zwei oder drei Förderbedarfen. Also im gemeinsamen Unterricht lernen vorwiegend Schüler mit „Förderbedarf Lernen“, „Förderbedarf Sozial-Emotional“ und „Förderbedarf Sprache“. Und es gibt auch mehrere Autisten, die jetzt schon jeder einen individuellen Lernbegleiter haben, der den gesamten Schultag an ihrer Seite ist und ihnen speziell helfen kann. Das ist eine sehr gute Sache. Die wünschte ich mir auch für die anderen Schüler mit Förderbedarf.

Der gemeinsame Unterricht ist an unserer Schule schon recht gut aufgestellt und es gibt viele Unterstützungssysteme. Allerdings ist die Belastung durch die Bürokratie enorm, denn ich muss bei jedem Schüler in einer Anlage die Fortschritte des Förderbedarfs dokumentieren. Als unsere Klassen noch homogener waren, musste man im Unterricht nicht so viel binnendifferenzieren. Man hat zum Beispiel eine Aufgabe für alle Schüler gestellt. Oder wenn Klausuren oder Klassenarbeiten ausgearbeitet werden mussten, waren diese auf einem einheitlichen Niveau. Heutzutage müssen die Lehrer Aufgaben und auch Arbeiten auf vier Niveaustufen erstellen. Das heißt: Die höchste Niveaustufe sind die Aufgaben für die Realschulschüler. Die zweite Niveaustufe sind die Aufgaben für die Hauptschüler. Die dritte Niveaustufe sind die Aufgaben für die Schüler mit Förderbedarf und die vierte Niveaustufe sind die Aufgaben für Schüler mit Migrationshintergrund. Das heißt, bereite ich heute eine Unterrichtsstunde vor, muss ich im Prinzip vier Niveaustufen erarbeiten und das Gleiche gilt für die Klausuren. Das ist für die Kollegen eine absolute Mehrbelastung und wenn man dann am Ende sieht, was dabei rauskommt, ist man einfach nur frustriert.

Lehrermangel und Überbelastung

In vielen Schulen fehlen die Lehrkräfte, um überhaupt eine Grundversorgung der Schüler zu gewährleisten. Wie wirkt sich der Lehrermangel auf den Unterricht und die Lehrer selbst aus?

Ja, das ist im Prinzip Verwaltung des Mangels. Es gibt sicher in ganz Sachsen-Anhalt an den Schulen, und dazu gibt es ja auch Studien, sage ich jetzt mal ein Drittel der Lehrer, die das Alter Ende Fünfzig, Anfang Sechzig haben und in drei bis fünf Jahren in Rente gehen werden. Die jungen Kollegen, die anfangen, beginnen meistens in Teilzeit, weil sie logischerweise Kinder haben. Es fehlt im Prinzip die Spanne dazwischen. Da sind wir recht schwach aufgestellt. Die mittlere Schicht zwischen den alten DDR-Lehrern und den jungen Anfängern arbeitet eher am Gymnasium oder an Schulen, die nicht im Brennpunkt liegen.

Ja und Mangel verwalten bedeutet zum Beispiel zwei Lehrer werden krank und das geht dann immer auf Kosten der anderen Kollegen, der Kraft der anderen Kollegen und der Gesundheit. Wenn ein Kollege ausfällt, fällt der Unterricht bei den großen Klassen meistens aus. Die Planerin darf aber die fünften und sechsten Klassen nicht nach Hause schicken, deshalb werden die Kinder auf die älteren Klassen aufgeteilt oder ein Lehrer unterrichtet zwei Klassen. Die Türen werden aufgemacht, die ältere Klasse bekommt Aufgaben und der Lehrer geht in die jüngere Klasse, um die Schüler dort zu bespaßen. Für uns als Lehrer stellt sich dann immer die Frage der Fürsorge- und Aufsichtspflicht. Passiert in dem einen Raum etwas und ich war in dem anderen Raum, ja wie kann ich da meiner Fürsorge- und Aufsichtspflicht nachkommen?

Der Ausfall wird verwaltet. Der Idealzustand, um eine Schule am Laufen zu halten von Beginn des Schuljahres an, wäre 102% Lehrerbesetzung, um Ausfälle zu kompensieren. Aus Gesprächen mit anderen Kollegen ist mir bekannt, dass dies aber an vielen Schulen nicht gegeben ist. Auf Grund von Langzeiterkrankungen, von Schwangerschaften und von vielen anderen Beweggründen beginnen viele Schulen das Schuljahr meist mit einer Besetzung von ca. 92%. Man muss für sich das Beste draus machen. Trotzdem gehe ich noch wirklich gerne in die Schule und freue mich jeden Tag wieder auf meine Schüler.

Der Arbeitsalltag an einer Schule ist sehr hart. Oft klagen die Lehrer über die hohe psychische Belastung. Viele Pädagogen leiden an Depressionen, Burnout oder Magengeschwüren.
Wie schätzt du die psychische Situation deiner Lehrer-Kollegen ein?

Ja, ich kann das nur bestätigen. In meinem Kollegium gibt es da auch mehrere Fälle. Ich selbst war auch betroffen und habe mich da aber wieder rausgezogen. Es ist einfach dem geschuldet, dass man in der jetzigen gesellschaftlichen Situation, wie ich schon sagte, nicht Vermittler von Unterrichtsinhalten und Stoff ist, sondern, dass man einfach mit vielen bürokratischen Dingen überlastet ist und dass man eigentlich heute als Lehrer ein besserer Sozialarbeiter ist.

Ja, auf Grund der hohen Arbeitsbelastung der Lehrer, die ja meistens halb drei nach Hause gehen und deren Arbeitstag, die zweite Schicht im Prinzip, dann beginnt, das sieht ja die Bevölkerung nicht. Auch die älteren Kollegen müssen sich dann noch einmal hinsetzen, Arbeiten korrigieren, Statistiken erstellen, das Klassenbuch ordentlich führen und viele, viele andere Dinge. Und die jungen Lehrer müssen dann noch bis in die Nacht hinein ihren Unterricht ordentlich vorbereiten. Wenn dann am nächsten Tag trotz der vierfachen Niveaustufen kein Erfolg im Unterricht erfolgt, sondern man wieder nur als Sozialarbeiter fungiert hat und Vermittlung von neuen Lerninhalten in keinster Weise eine Rolle gespielt hat, kann das schon Frust auslösen in einem Menschen und wenn sich das dann immer wiederholt, kann das zu Depression und Burnout führen. Eigentlich logisch, wenn man aus diesem Hamsterrad nicht herauskommt und sich nicht einen Gegenpol sucht, Freizeitaktivitäten, womit man das kompensieren kann.

Ich muss leider auch von mir selbst sagen, dass ich bereits in dieser Situation war. Man kann nicht aufstehen. Es ist wie eine Krake, die einen immer wieder nach unten zieht. Ich wollte nicht mehr weiterleben. Ich habe es aber mit sehr, sehr viel Kraftaufwand und mit größter Willenskraft und auch dank meiner Familie, der ich an dieser Stelle noch einmal großen Dank aussprechen möchte, geschafft, mich dort wieder herauszuziehen.

Nach einem Burnout ist vor einem Burnout und ich habe neue Strategien entwickelt, mit dieser Situation eines Lehrers zurechtzukommen. Ich habe Entspannungstraining, ich habe mir Freizeitaktivitäten gesucht, die mich das Ganze vergessen lassen. Ich habe einen sehr großen Freundeskreis, mit dem ich mich austauschen kann. Und ich habe eine hervorragende Familie, die hinter mir steht.

Aber die Eingliederung der Lehrer nach einem Burnout funktioniert nicht. Auch wenn die Kollegen nach dem Burnout mit wenigen Stunden anfangen, werden sie nach kurzer Zeit wieder voll eingespannt, weil andere Lehrer ausfallen und sie Vertretungsstunden geben müssen. Wenn ich dann wieder eine Lehrerin im Lehrerzimmer weinen sehe, dann weiß ich, es ist wieder soweit.

Die Planerin bemüht sich schon, aber drei Stunden Wiedereingliederung nach einem Burnout kann nicht funktionieren. Die Wiedereingliederung eines Lehrers in der Schule nach einem Burnout kann nicht wie in anderen Berufsgruppen funktionieren. Drei Stunden am Tag geht in dem Mechanismus Schule eigentlich nicht durchzusetzen, weil die Kinder sind da, die stehen dann alleine rum und dann sagt man schon als Lehrer mit Burnout: „Ne, die sollen jetzt nicht schon wieder Ausfall haben“ und bleibt länger. Da müssten die Schulleitungen besser drauf achten, dass die Kollegen wirklich nur drei Stunden machen. Aber jeder ist da auch in Selbstverantwortung.

Selbstschutz und Reaktion

Tauschen sich die Kolleginnen und Kollegen über ihre gesundheitliche Situation aus?

Ja, ich würde sagen, je nach Altersgruppen tauschen sich die Kollegen aus und es wird natürlich, je älter man wird, umso schwerer, den Schulalltag zu bewältigen.

Wurden schon Beschwerden wegen der Überbelastung an das Ministerium übermittelt und wie hat dieses reagiert?

Es gibt schon Beschwerden, doch diese wurden nicht erhört. Es ist nichts passiert. Der Punkt ist jedoch, dass die Schulverwaltung auch nicht gegen die Schulleitung vorgehen würde, denn bei dem Mangel an Schulleitern ist man froh, jemanden gefunden zu haben, der diesen verantwortungsvollen Posten übernimmt.

Wie verhalten sich Personalrat und Gewerkschaften?

Der Personalrat steht da hinter den Kollegen und fordert sie auch auf, Überlastungsanzeigen zu stellen und die Gewerkschaften ebenfalls. Der Personalrat ist wirklich bemüht, zum Beispiel führt er Gespräche mit der Schulleitung. Jedoch ergebnislos, da die Schulleitung alles abblockt mit dem Satz:

„Ich bin hier die Schulleitung und ich mache, was ich für richtig halte.“ Die Leute vom Personalrat sind sehr frustriert, weil die Schulleitung überhaupt nicht auf ihre Beschwerden reagiert. Dies gilt aber nicht für die Allgemeinheit der Schulen, es gibt auch positive Beispiele.

Was hältst du von dem Volksbegehren „Den Mangel beenden“? Dafür sammelt ein Bündnis Unterschriften, um ein Gesetz im Landtag einzubringen, das die Landesregierung verpflichtet, mehr Lehrer einzustellen.

Das Volksbegehren ist eine prima Sache, ich wünsche, dass das von der Landesregierung erhört und umgesetzt wird.

Gibt es im Kleinen auch Selbstschutz, den man auf den ersten Blick vielleicht nicht als solchen erkennt: Zum Beispiel sich krankschreiben, wenn es wieder zu viel wird; Noten eintragen, ohne dass wirklich Arbeiten kontrolliert wurden, etc.?

Davon ist mir nichts bekannt. (Lacht ironisch.)

Im öffentlichen Rundfunk und auch in Zeitungen kommen immer wieder Beiträge vor, in denen der Schulalltag nicht realistisch dargestellt wird, sondern zu positiv. Die Probleme werden nicht öffentlich behandelt. Wie findest du das?

Da ist vielleicht eine zu große Kluft zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem, was sich die Politik gern wünscht und dem alltäglichen Geschäft an den Schulen.

Es sollen Erfolge vermeldet werden, heute stand zum Beispiel in der Zeitung zur Coronakrise: „Die Schulen werden wieder geöffnet.“ Stimmt doch gar nicht. Wenn du ins Tiefe liest, steht da, sie werden doch nicht geöffnet. Aber jeder liest erst mal die Überschrift.

Das heißt, die Journalisten und die Politiker sollten sich selbst mal die konkrete realistische Lage vor Ort angucken.

Das würde ich mir wünschen, ja.

*Name geändert.