Mindmapping Flucht

Mindmapping Flucht

Ich. Geflüchtete. Studentin in Heidelberg.

Am 16.01.2021 startete das einwöchige Protestcamp auf dem Heidelberger Marktplatz. Das organisationsübergreifende Bündnis “Protestcamp Heidelberg” fordert u.a. die sofortige Evakuierung und Auflösung der Flüchtlingslager und -camps an den Außengrenzen der EU. Dieser Text, ein Beitrag einer Heidelberger Studentin, die selbst mit ihrer Familie vor einem Bürgerkrieg geflüchtet war, wurde im Rahmen des Programms vorgetragen.

Hier in Heidelberg stieß ich das erste Mal auf den Begriff „Mindmapping“. Es wurde uns Studienanfängern als Tipp zum Einstieg ins wissenschaftliche Schreiben vorgestellt. Schon beim ersten Bild, was mir Google bei der Suche nach dem Begriff „Mindmapping“ ausspuckte, fühlte ich mich in meine Therapiesitzung vor einigen Jahren versetzt.

Man schreibt einen Begriff, und es bilden sich Wölkchen oder Blasen um den Begriff, in denen Assoziationen zu genau diesem Begriff genannt werden.

„Welche Assoziationen haben Sie damit?“ – eine der häufig gestellten Fragen in der Therapie. Meine Assoziationen mit Mindmapping selbst sind also vor allem stationärer Aufenthalt in der Psychiatrie und Gesprächstherapie. Egal wie sehr ich versuche, Mindmapping mit meinem Studieninhalt zu verbinden, so tauchen bei mir die Assoziationen zum Thema Flucht vor meinen Augen auf.

Würde ich nach einem der Mindmapping-Konzepte vorgehen und „Meine Flucht“ in die Mitte eines Blattes schreiben, dann käme in einer Blase oben rechts der Begriff „Verlust“ – darunter „Angst“.

 Oben links „Krieg“. Drunter „Waffen“, „Verletzung“, „Blut“, „Vergewaltigung“, „Schreie“, „Narben“, „Bomben“, „Uniformen“.

Links unten würde ich „Reiseweg“ schreiben, darunter „Versteck“, „Pass“, „Ticket“, „Hunger“, „Warten“, „Krankheit“ aufzählen.

Schließlich rechts unten „Asyl“ mit den Assoziationen „Angst“, „Ablehnung“, „Duldung“ „Armut“, „Rassismus“, „Bürokratie“.

Mindmaps würden sich bei Geflüchteten unterscheiden, denn unsere Geschichten sind alle unterschiedlich und individuell, aber es gibt Begriffe, die jede geflüchtete Person erwähnen würde: Verlust und Angst. Kein Mensch flieht einfach so. Weil er gern mal woanders leben möchte. Weil er mal Tapetenwechsel braucht. Weil er es mal woanders „probieren“ möchte. Die Flucht ist mehr als eine Reise.

Nein das Privileg, im Namen von Reisen Ländergrenzen zu überschreiten und uns an einem Ort der Wahl niederzulassen – das haben wir nicht. Beim Mindmap meiner deutschen Kommilliton:innen ohne Kriegs- und Fluchthintergrund zum Thema Reisen würden wohl folgende Begriffe vorkommen:

„Abenteuer“, „Auszeit“, „Freiwilligendienst“, „Roadtrip“, „Yogaretreat“, „Annapurna“, „Wildlife“, „Fotosafari“, „workandtravel“, „Gap Year“, „Horizont erweitern“ usw.

Sie reisen mit der Gewissheit zurückzukehren, zurück zur Familie, in die vertraute WG, zur Lieblingskneipe, zu den wöchentlichen Bolder-Events. Was bei ihren Assoziationen zum Begriff Reisen fehlen wird: Verlust und Angst. Nein, die brauchen sie nicht. Sie reisen und kehren zurück, abgesichert durch Krankenversicherung und dem edelsten aller Reisepässe. Bertolt Brecht schrieb in „Flüchtlingsgespräche“ über die Bedeutung des Passes:

„Der Pass ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so eine einfache Weise zustande wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustande kommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Pass niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.“

Das ist also der Unterschied: anerkannt sein. Nicht anerkannt im Asylrechtssinne – das reicht bei Weitem nicht aus für den Zutritt in den Club der Weinrot-Passträger:innen. Mitglied dieses Clubs zu sein, ist für Menschen, die in einem Land des globalen Südens geboren werden, Utopie. Für die allermeisten von uns Geflüchteten ist allein der Weg von der Flucht bis zur Anerkennung als Flüchtling im rechtlichen Sinne – falls es überhaupt dazu kommen sollte, der Schwerste, den wir je gehen werden.

Beim Schreiben über die Flucht erscheint mir reflexartig das Midmap mit Flucht- bzw. Reiseweg als Bild. An die Wölkchen mit „Versteck“, „Pass“, „Ticket“, „Hunger“, „Warten“, „Krankheit“ bilden sich Fäden und es formen sich weitere kleinere Kreise, die den Reiseweg  mit Erlebnissen ausfüllen: kreischende Kinderstimmen, bellende Hunde in der Nacht; Fieberträume in Malarianächten; Zitternde Glieder, wenn Bomben fallen; der bis ins innerste sich durchbohrende Laut, den eine Frau während ihrer Vergewaltigung macht. Traurige Mutteraugen, besorgte Vaterstimmen.

Und überall diese Angst. Angst vor Allem, das kommt oder nicht kommt. Nicht mehr wissen, wie es ist, keine Angst zu haben. Angst davor, alles zu vergessen. All das, was uns ausmachte: unser Haus, das uns kaum vor dem Monsunregen schützte, unsere Tiere, die wir immer zuerst fütterten, bevor wir selbst frühstückten, mein Fußweg über die Reisfelder zur Schule, die Schmetterlinge, die ich in unserem Mangogarten zählte, die Reime, die ich mit meinen Freunden aufsagte.

Warten. In dieser Metropole auf der Durchreise, in der wir nichts weiter als eine Nummer auf der Liste des Schleppers waren. Warten. Warten auf den Anruf aus dem Ausland. Warten auf ein Zeichen des Schleppers. Warten auf Essen. Warten auf Medikamente. Warten, mal wieder den Raum verlassen und Tageslicht sehen zu dürfen. Warten, die Toilette nutzen zu dürfen. Warten, dass es weitergeht. Einen Schritt weiter. Ein Schritt mehr Verlust und gleichzeitig ein Schritt mehr in Richtung Sicherheit.

Die Assoziationskreise hören in meinem Kopf nicht mehr auf. Ein Kreis führt zum nächsten. Mein Körper begleitet meine Bilder im Kopf mit Herzrasen, Bauchweh, Schweiß, Trauer, und vielen sich widersprechenden Gefühlen. Traumafolgereaktion. Das wird mich noch lange begleiten. Vielleicht für immer. Meine Therapeutin empfahl dagegen positive Mindmaps.