Es war ein bedrückender Moment, als vorm Magdeburger Landgericht Schilder mit den Namen aller Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 verteilt wurden, die Zahl der anwesenden Personen aber nicht ausreichte. So mussten viele zwei Schilder halten. War das ein weiterer Grund, um an die Zivilgesellschaft zu appellieren, sich doch endlich an die Seite der Guten zu stellen und gegen Rassismus auf die Straße zu gehen? Die Bühne ist da, aber die Zuhörenden fehlen. Emily Williams mit einer Einschätzung.
Am 21. Juli 2020 begann der Prozess gegen den Attentäter von Halle. Nach dem gescheiterten Versuch, eine gut besuchte Synagoge in Halle zu stürmen und die dort Anwesenden zu ermorden, tötete der Mann aus Eisleben am 9. Oktober 2019 auf der Flucht zwei Menschen. Der Mann schoss der Passantin Jana L. in den Rücken und richtete Kevin S. in einem Dönerimbiss hin. Der Täter wurde auf der Flucht gefasst und sitzt seitdem in Untersuchungshaft. Die Bundesanwaltschaft wirft dem Angeklagten zweifachen Mord und weitere schwere Straftaten vor. Ihm droht die Höchststrafe.
Der Prozessauftakt in Magdeburg versprach großes Medieninteresse. Ein Bündnis mehrerer Initiativen und Gruppen hatte prozessbegleitend zu einer Kundgebung auf der Wiese vor dem Landgericht aufgerufen. Dort wurden dann die Schilder mit den Namen der Todesopfer verteilt. Es gab ein Mikrofon, einige Pavillons mit Infomaterial und ein paar Bierbänken standen auf der begrünten Freifläche. Auch ein Zelt für die Presse war vorbereitet worden. Das Gelände der Kundgebung war überschaubar und durch die anliegenden Straßen begrenzt. Im Schatten der Bäume saßen mit etwas Abstand ein paar Menschengruppen, mit und ohne Gesichtsmasken. Einige in schwarz gekleidet, andere eher hippiebunt. Die meisten waren sehr jung und mit dem Habitus einer zukünftigen intellektuellen Elite unterwegs. Am Wiesenrand, mit Blickrichtung zum Landgericht ausgerichtet, standen zwei junge Männer mit einer Israelfahne zwischen ihren Händen. Die Versammlung stand unter dem Motto „Solidarität mit den Betroffenen – Keine Bühne dem Täter“ und es war engagiert mobilisiert worden. Der Einladung zur Mahnwache folgten trotzdem nur etwa 120 Personen, Magdeburger*innen waren vielleicht zehn darunter. Redebeitrage waren kaum zu verstehen, wurden träge abgelesen und hatten den Esprit einer sehr langweiligen Hörspielkassette. Wir sind uns einig: Es können nicht alle Reden halten. Das ist nun mal so. Einen Text auf einer solchen Mahnwache in ein Mikrofon vorzulesen, als handele sich um eine Einkaufsliste, ist das Privileg der Nichtbetroffenheit.
Ich fühlte mich äußerst unwohl. Das lag aber nicht am mehr oder weniger ausgeprägten Redetalent der Sprechenden, sondern dem Kennen der Anwesenden. Zwischen dauerbeleidigten Mackern, die sonst am liebsten Frauen sexistisch beleidigen, die Antifas an Öffentlichkeit und Nazis verraten, die mit Staatsschutz und Polizei kooperieren, die antimuslimisch und rassistisch hetzen und das N-Wort zitieren, ist es aber nicht nur für Frauen schwer, den Opfern rassistischer Gewalt zu gedenken. Auch außerparlamentarische Politik ist ein schmutziges Geschäft. Wer nicht spurt, wird gemobbt.
Aber ausgerechnet diese Arschgeigen haben jetzt in den sozialen Medien die Deutungshoheit über die Prozessbegleitung. Politprofis, die jahrelang nur aus der Arbeit derjenigen im Hintergrund profitieren und deren Karriere darauf baut, ihre Gesichter in Kameras zu halten, wenn etwas klappt und sich zu distanzieren, wenn es schief geht. Dampfplauderer, die immer dann eine „gewaltfreie“ Alternative zu allem aus dem Arsch ziehen sobald die Gefahr besteht, eine antifaschistische Initiative könnte mit linken Inhalten erfolgreich in die Zivilgesellschaft mobilisieren. Genau jene, die sich immer wieder unaufgefordert zur Gewaltfreiheit bekennen und damit versprechen, alle sofort auszuliefern, die sich dem Konsens der Wirkungslosigkeit nicht beugen. Diejenigen, die am höchsten jüdischen Feiertag und der steten Mahnung vor weltweitem Antisemitismus nicht schützend vor der Synagoge standen aber zu jeder Antifademo ihre Israelfahnen mitschleppen. Ausgerechnet jene, die im April 2018 durch Halle zogen und den Islam als „die Grundlage für Antisemitismus, Frauenverachtung und Morden in der ganzen Welt“ denunzierten, sind nun auch jene, die über den Attentäter als Frauenhasser, Antisemiten und Rassisten berichten aber zuerst ihre eigene Haltung reflektieren müssten. Dazu aufgefordert, rasten sie aus. Solidarität sei das Gebot der Stunde, um dem rechten Terror die Stirn zu bieten. Nur Solidarität kann uns noch retten. Uns alle. Also haltet gefälligst die unsolidarische Klappe und stimmt uns zu. Auch wenn wir uns falsch verhalten. Wir sind die Guten.
Für Frauen ist Präsenz in diesem Umfeld gefährlich. Du mußt nicken oder bist Feindbild. Die Entsolidarisierung ist längst vollendet. Es gibt da für viele kein Miteinander mehr. Für manche stellen sich die Fragen anders: Wie fahrlässig ist meine Sichtbarkeit in diesem Umfeld? Werde ich dort fotografiert, mit weiteren Artikeln geoutet, meine Personendaten veröffentlicht, weil ich es wage, mich als Frau politisch zu äußern und die anwesenden Macker meine Kritik nicht aushalten? Kleben die Macker mir ein Fadenkreuz auf die Stirn, damit Täter wie in Halle neue Ziele finden? Mit Sicherheit.
Wer möchte sich aber auch neben eine Israelfahne stellen, um den Juden und Jüdinnen in Deutschland die Ausreise nach Israel zu empfehlen. Ein Verweis nach Israel ist eine bevormundende Antwort im Kampf gegen Antisemitismus. Juden und Jüdinnen sind Freunde, Kollegen und Nachbarn. Weil sie in Deutschland leben möchten, müssen wir dafür sorgen, dass dies gefahrlos möglich ist. Wir müssen mit den Lebenden solidarisch sein, nicht erst mit den Toten. Ich gebe diese Idee nicht auf. Antisemitismus passiert hier und ein Sicherheitsversprechen durch eine Ausreiseempfehlung ist keine Lösung. Der Täter versuchte in die Synagoge in Halle an der Saale einzubrechen, er wollte die Anwesenden töten. Die Menschen hinter der lebensrettenden Holztür hatten Todesangst. Antisemitismus ist kein Import und der Islam ist nicht die Grundlage für Antisemitismus, Frauenverachtung und Morden in der ganzen Welt. In Halle an der Saale tötete am 9. Oktober 2019 ein 28-jähriger Deutscher in rasendem Hass zwei Menschen. Einer Holztür und der Ladehemmung seiner selbstgebauten Waffen ist es unter anderem zu verdanken, dass nicht mehr Menschen ermordet wurden.
Der Attentäter stammt aus Eisleben. Die Geschichte des Antisemitismus in Eisleben findet man direkt auf dem Marktplatz. Dort steht eine gut vier Meter große und 1,5 Tonnen schwere Bronzeskulptur des wohl bekanntesten Judenhassers seiner Zeit: Martin Luther. Überall in der Region, von Wittenberg bis nach Halle, wird der Begründer des Protestantismus bis heute geehrt. “Was wollen wir Christen nun tun mit diesem verworfenen, verdammten Volk der Juden?”, schrieb Luther. In seiner Schrift “Von den Juden und ihren Lügen” forderte er “brennende Synagogen”. In seiner letzten Predigt in Eisleben, 1546, fordert er die vollständige Austreibung der Juden aus der Stadt. Der Attentäter von Halle wurde in der Lutherstadt Eisleben geboren, ging auf das Martin- Luther-Gymnasium und auf die Martin-Luther-Universität in Halle.
Antisemitismus muss in Deutschland nicht importiert werden, die Wiege steht hier. Deutschen muss man keine ideologische Nähe mit Rechten unterstellen, sie sind es selbst. Juden und Jüdinnen des Landes zu verweisen erfüllt Antisemiten einen innigen Wunsch. Der Halle-Attentäter begründete seine Mordlust völkisch-nationalistisch. Er wollte Deutschland als Schutzraum der weißen Herrschaft gegen Muslime und Schwarze verteidigen, die in seinem Weltbild von einer jüdischen Macht gesteuert würden. Er dämonisiert Juden und entmenschlicht Muslime. Der Täter beschrieb die von ihm als „Krise“ erlebte Zuwanderung von Flüchtlingen im Jahr 2015 als Bedrohung seines identitären Weiß- und Deutschseins. Nationalismus tötet, denn Nationalismus produziert Ausschlüsse und verschafft einem Kollektiv eine gemeinsame Identität, die zu Gewalt führen wird, wenn diese als bedroht gilt. Nationalismus ist die Rechtspraxis zum Völkischen. Diese wahrheitswidrige Erzählung der angeblichen Grenzöffnung und unkontrollierten Zuwanderung im Jahr 2015 ist das Leitmotiv der Neuen Rechten und begünstigte die Wahlerfolge der AfD. Nach dem Weltbild des Täters sei für die Bedrohung des Kollektivs eine jüdische Elite verantwortlich. Damit greift er auf das antisemitische Narrativ der jüdischen Weltherrschaft zurück. Der Halle-Attentäter ist Incel („Involuntary Celibate“), Rassist, Nationalist und Antisemit.
Die Antworten der vor dem Landgericht in Magdeburg stehenden Linksliberalen auf das Attentat am 9. Oktober 2019 in Halle überzeugen mich nicht. Auch eine mitreißend gehaltene Rede hält keinen Attentäter auf. Die langweiligen auch nicht. Ich weiß, dass der deutsche Staat strukturell und offen rassistisch, auf dem rechten Auge mindestens sehschwach und auf dem linken äußerst rabiat ist. Ich erwarte von einem Staat weder Schutz noch Gerechtigkeit. Ein Staat ist kein Freund, sondern ein Konstrukt. Nationalismus produziert Ausschlüsse und befördert Rassismus. Rassismus, Sexismus und Antisemitismus sind in der bundesdeutschen Wirklichkeit Alltagskultur. Von einer solidarischen Linken erwarte ich darum, dass der Umgang miteinander solidarisch ist, dass keine Ausschlüsse reproduziert werden, dass Frauen nicht psychiatrisiert und nicht sexistisch attackiert werden, dass Kritik am Nationalismus zugelassen wird, dass Religionskritik nicht nur „den Islam“ meint und dass Solidarität vom einmaligen Medienspektakel zur täglichen Praxis wird. Davon sind wir in Magdeburg noch weit entfernt.
Meine Solidarität gilt täglich allen Betroffenen rassistischer Politiken und Gewalt. Ich bekämpfe Rassismus, auch wenn er von Linken kommt. Und ich erkenne Incels am Verhalten gegenüber Frauen, auch wenn sie versuchen, ihren Frauenhass mit linker Rhetorik zu begründen. Ich weiß, dass der Kampf gegen Antisemitismus niemanden gegen Rassismus immunisiert. Der Halle-Attentäter war beides: antisemitisch und rassistisch. Und ein Frauenhasser.
Was unternehmen wir gegen solche Typen? Wie verhindern wir, dass weiße Männer ihren unerfüllten Herrschaftsanspruch in Gewalt übersetzen und zur Tötungsmaschine werden? Um mir diese Fragen in Ruhe zu stellen, bin ich gegangen. Schon am zweiten Prozesstag war die Wiese dann wieder menschenleer. Statt vieler Pavillons auf dem Grün gab es nur noch einen auf dem Plattenweg. Zum Glück hatte niemand mehr Schilder mit Namen der Todesopfer rechter Gewalt dabei, es gab nicht mal annähernd genug Hände. An den kommenden Prozesstagen werden sowohl die Wiese als auch die Plätze im Gerichtssaal leer bleiben.