Volksstimme macht Lobbyarbeit für Prostitution in Stendal

Gewalt gegen Frauen verschwiegen

Die Magdeburger Regionalzeitung Volksstimme hat zum „Tag gegen Gewalt an Prostituierten“ einen Themenartikel im Stendaler Lokalteil veröffentlicht. Doch sie fand keine Huren, die über Gewalt sprechen wollten. Stattdessen ließ sie eine Lobbyvertreterin der Rotlichtindustrie zu Wort kommen, die die systematische Gewalt gegen Frauen in der „selbstbestimmten Sexarbeit“ leugnete. Emily Williams stellt dieser tendenziösen Prostitutionswerbung die Abgründe der Branche gegenüber.

Am 17.12.2020 erschien in der Volksstimme unter dem Titel „Die Gefahr lauert in der Unsichtbarkeit“ ein Schaustück für gelungene Lobbyarbeit einer menschenverachtenden Branche. Zum Thema Gewalt in der Prostitution befragte Kaya Krahn eine Sprecherin eines Lobbyvereins. Das ist dann in etwa so, als würde man in der Chefetage einer Firma nach dem Alltag am Fließband fragen. Kaya Krahn ist seit 2019 Volontärin bei der Volksstimme in Stendal und schreibt unter anderem über das Arbeitsleben und die Leute, die in bestimmten Berufen arbeiten. Als Volontärin verdient sie ca. 1.400,- Euro brutto für mindestens 40 Stunden in der Woche. Sicher hat sie viel zu tun und wird mies bezahlt, aber das ist keine Entschuldigung für fehlende Recherche. Die Autorin ist verantwortlich für ihren Text, egal wie und unter welchen Umständen er entstanden ist.

Prostitutionslobby dominiert

Leider ist aus dem Artikel selbst wenig zum Thema Gewalt in der Prostitution zu erfahren, denn Prostituierte aus dem Landkreis waren zum Gespräch nicht bereit. Das Suchen und Finden von Daten zum Thema findet Kaya Krahn „schwierig“. Krahn vermutet, ein „über Generationen etabliertes Tabu“ ließe sich einfach nicht aufbrechen. Mit diesem „Tabu“ meint sie die crossmedial präsentierte, offen in jedem Anzeigenteil beworbene Prostitution, in einem kapitalistischen Staat mit einem der liberalsten Prostitutionsgesetze weltweit. Statt schwierige Recherchen zu den tatsächlichen Gewaltverhältnissen in der Prostitution zu versuchen, gab ihr Johanna Ebeling vom Berufsverband erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD) Auskunft. Der BesD ist ein Lobbyverein, in dem auch Bordellbetreiber und sogar Zuhälter Mitglied werden dürfen. Manchmal wird der BesD auch als „Hurengewerkschaft“ bezeichnet. Eine Voraussetzung, um im Verein Mitglied zu werden, ist nämlich, in der „Sexarbeit“ tätig gewesen zu sein [2]. Damit ist dieser Verein nicht mehr „gegnerfrei“ und sowieso politisch keine Interessenvertretung der Prostituierten. Gegnerfreiheit ist eine nach höchstrichterlicher Rechtsprechung notwendige Eigenschaft einer Gewerkschaft.

Ebeling legte als rhetorisch versierte Lobbyistin auch sofort den technischen Konsens des Themas fest. Sie verklärt Prostitution zur „Sexarbeit“. Damit ist die Diskussion über Prostitution als Menschenrechtsverletzung, als Gewalt an Frauen, kein Diskussionsinhalt mehr. Gewalt erfährt eine Prostituierte also nicht, indem ein Freier sie gegen Zahlung einer Entschädigung sexuell missbraucht, sondern erst wenn er sie dabei auch noch schlägt. Der Begriff „Sexarbeit“ setzt die Legitimität der sexuellen Ausbeutung von Menschen nämlich voraus. In Ebelings Darstellung, sei Gewalt zwar ein „Teil der Realität“ in der Prostitution, aber „jedoch eine Ausnahme“. Offen bleibt, was sie als Gewalt bewertet und nach welchen Kriterien. Sie selbst habe noch keine Gewalt erlebt, gibt Ebeling an. Bekennt aber auch, zumindest früher zu sexuellen Handlungen genötigt worden zu sein:

Nur am Anfang, da habe ich manchmal Sachen gemacht, die ich eigentlich nicht wollte.“

„Ebeling“

Nach Einschätzung des Bundesgerichtshofs liegt auch bei ausschließlich psychisch wirkendem Zwang bereits Gewalt vor. Um sich vor Gewalt zu schützen, schlägt Ebeling anderen Frauen vor, die eigenen Grenzen zu kennen und zu lernen, diese zu artikulieren. Als Prostituierte Gewalt aushalten zu müssen, ist laut Ebeling, eine Konsequenz aus dem eigenen Fehlverhalten. Eine Frau, die in der Prostitution Gewalt erlebt, habe demnach weder die eigenen Grenzen erkannt, noch gelernt, diese zu artikulieren. Dem Opfer einer Straftat mindestens Mitverantwortung aufzuladen, fällt in den Bereich „Victim-Blaming“. Unter ihrem Pseudonym „Lady Johanna“ beschreibt Ebeling auf ihrem Profil als Domina ihre eigenen Tabus. Dazu zählen neben Oralverkehr, Erbrechen, das Spielen mit Kot und auch der Geschlechtsverkehr. Johanna Ebeling hat also, anders als viele anderen Frauen in der Prostitution, mit Sexkäufern keinen Geschlechts- und auch keinen Oralverkehr. Die Kunden von Ebeling kaufen von ihr das kontrollierte Ausführen von Gewalt. Der Mindestsatz im Dominabereich liegt bei 200,- Euro pro Stunde. Zu ihren Lieblingsaktivitäten zählt Ebeling, ihr Gegenüber um Gnade winseln zu lassen. Dabei verspricht sie ihren Kunden, keine dauerhaften Schäden zu hinterlassen.

Sexarbeit“ ist immer Gewalt…

Aber eine Prostituierte, die als Migrantin jedoch kaum deutsche Sprachkenntnisse aufweist, ihre Rechte nicht kennt, aus extremen Armutsgründen der Prostitution nachgeht, einem hohen finanziellem Druck vonseiten der Familie, des Zuhälters und des Partners ausgesetzt ist und unter rechtlosen Rahmenbedingungen arbeitet, wird nicht in jeder Situation das Selbstbewusstsein haben, klare und deutliche Anzeichen von verbaler und/oder nonverbaler Ablehnung bei sexuellen Grenzüberschreitungen zu erkennen und sich dagegen zur Wehr setzen. Bei einer abgelaufenen Aufenthaltsgenehmigung wird sie auch Gewalt nicht anzeigen, denn damit setzt sie sich der Gefahr ihrer Abschiebung aus. Gerade die sexuelle Dienstleistung im Prostitutionsbereich ist keine eindeutig vertraglich definierte Regelung zwischen Anbieterin und Kunde, sondern eine hoch komplexe und psychologisch ambivalente Austauschbeziehung zwischen Personen mit völlig unterschiedlichen Bedürfnissen. Was unter bestimmten Voraussetzungen als normal für diese Tätigkeit angesehen ist, wird unter anderen Rahmenbedingungen und im subjektiven und biographischen Kontext als sexuelle Gewalt erlebt.

in Stendal…

Um etwas über die tatsächlichen Verhältnisse in der Prostitution in Stendal zu erfahren, helfen die Forenbeiträge des Nutzers „sdl12“ im AO-Freierforum. Der Begriff AO steht in diesem Zusammenhang für Geschlechtsverkehr ohne Kondom. Seit Juli 2017 gilt in der Prostitution eine Kondompflicht. Nach Selbstauskunft bezahlten Freier in Stendal 50 Euro für 30 Minuten Sexdienst. Am 22. September 2017 beschrieb „sdl12“ seinen Besuch bei einer Prostituierten in der Gardelegener Straße in Stendal so (Namen anonymisiert, Rechtschreibung wie im Original):

(…) Sie hat sich gleich um mich gekümmert alles ist gut , doch wo ich bei ihr mal den Finger ansetzen wollte war gleich ne mag ich nicht. Also blieb nur das aufsatteln übrig, ihre Fotze ist auch schön eng war dadurch hatte ich meinen Spaß (…)

„sdl12“

Am 17. Juli 2019 schilderte „sdl12“ einen weiteren Besuch an der gleichen Adresse. Allerdings hatten die Frauen schon gewechselt:

War gestern da und die Kollegin hat die Verhandlung geführt und wir hatten uns auf 50€ für 20min komplettservice geeinigt. Im Zimmer nun angekommen wollte sie auf einmal nix mehr machen nicht da anfassen hier auch nicht da war ich eigentlich schon genervt. Dann wollte sie mir ein blasen aber sie dachte wohl sie muss eine metallstange in den Boden rammen ich sagte ihr nicht nur mit Hand , aber es wurde nicht besser (…) sie hat sich auf den Rücken gelegt. Doch auch da war sie wie ein Brett kein bisschen feucht und nass machen wollte sie nicht , Gleitgel war auch keins da und fingen oder sonstiges schon gar nicht möglich.wo ich dann mal 3 cm drin war hat sie mich halb weggestoßen und meinte nur das ihr das im Bauch weh tat , nach 2 weiteren malen habe ich abgebrochen. Habe ihr gesagt das es nicht ok ist was sie hier macht (…)“

„sdl12“

Auch der Forennutzer „Der Dorfler“ war im Juli 2019 in der Gardelegener Str. 74 als Freier und beschrieb sein Erlebnis so:

(…) Ihre Preisvorstellungen lagen bei 70 €. ich bot 50 € sonst gehe ich. Mehr ist es mir bei KEINER wert. Waren uns einig. (…) Meine Frage nach Anal wurde verneint. Heute nicht tut noch von gestern weh. Sie wieder in der Missi gevögelt. (…) Es stimmt, die xxxxx ist teinnahmslos aber nicht abweisend bei der Sache. Sie läßt sich führen. Sie ist dort zum geldverdiehnen. (…)“

„Der Dorfler“

Um menschenverachtende Freierberichte zu finden, in denen die Gewalt gegen Armutsprostituierte von den Tätern verherrlicht wird, müßte man nur ein bisschen recherchieren. Aber manche Ereignisse schaffen es dann sogar in die Volksstimme, weil sie vor Gericht verhandelt werden. Im März 2019 hat ein Freier eine Prostituierte in Stendal mit einem 32 cm langen Messer und einem Schraubenschlüssel lebensgefährlich verletzt [3]. Der 55-Jährige trug ein Küchenmesser und einen Schraubenschlüssel bei sich. Angeblich, weil er im Dunkeln Angst vor möglichen Überfällen hätte. Das spätere Opfer ließ ihn wegen eines anderen Freiers erst nach etwa 15 Minuten ein. Er bat sie, vorzugehen. Unvermittelt und offenbar völlig motivlos zog er das Messer und schlug zunächst mit dem Griff von hinten auf die 51-Jährige ein. Der Freier wurde zu 2 Jahren auf Bewährung verurteilt. Da er zuvor fast 7 Monate in Untersuchungshaft saß, verließ der 55-jährige das Gericht als freier Mann. Das 51-jährige Opfer bekam 7.500,- Euro Schmerzensgeld zugesprochen.

„sdl12“ im AO-Freierforum.

Schon 4 Jahre zuvor kam es in Stendal zu einem Angriff auf Prostituierte. Im Dezember 2015 soll Ein 60-Jähriger Hobbyjäger in Stendal einen Revolver gezogen und lautstark Einlass bei zwei Prostituierten gefordert haben [4]. Er beschuldigte die beiden Frauen des Diebstahls. Seine Brieftasche war verschwunden. Mit einer Waffe hämmerte er gegen die Tür. Eine der zwei Frauen kletterte in ihrer Angst über die Balkonbrüstung im ersten Stock und stürzte hinunter auf eine mit Betonsteinen gepflasterte Fläche. Dabei brach sich die 31-jährige Polin einen Lendenwirbel und das linke Handgelenk. Die Staatsanwaltschaft forderte als Strafe 160 Tagessätze à 40 Euro (6400 Euro), die Verteidigung des Beklagten 100 Tagessätze à 40 Euro (4000 Euro). Der Anwalt, der die verletzte Prostituierte als Nebenklägerin vertrat, hatte eine Haftstrafe von mindestens zwei Jahren sowie einhunderttausend Euro Schmerzensgeld und eine monatliche Rente von 500 Euro für seine Mandantin gefordert. Mit seinem Urteil unterbot der Amtsrichter alle. Der Freier wurde wegen versuchter Nötigung, fahrlässiger Körperverletzung und Verstoß gegen das Waffengesetz zu einer Geldstrafe von 70 Tagessätzen zu je 40 Euro (2800 Euro) verurteilt. Seine Brieftasche fand der Mann übrigens später zu Hause wieder.

und überall

In einer Studie von Farley et al. aus dem Jahr 2003 wurden 854 Interviews in neun Ländern (Kanada, Kolumbien, Deutschland, Mexiko, Südafrika, Thailand, Türkei, USA und Sambia) durchgeführt in Bezug auf körperliche und sexuelle Gewalt von Betroffenen in der Prostitution [5]. In der Untersuchung wurde festgestellt, dass 59 Prozent bereits in ihrer Kindheit körperlich misshandelt wurden. 71 Prozent haben körperliche Angriffe in der Prostitution erlebt und 63 Prozent wurden vergewaltigt. Von den Frauen würden 89 Prozent gerne aussteigen, haben jedoch keine andere Option zu überleben. 75 Prozent der Befragten waren bereits zum Zeitpunkt der Studie bzw. einmal in ihrem Leben wohnungslos und 68 Prozent erfüllten Kriterien einer posttraumatischen Belastungsstörung.

Illegale Prostituierte werden kriminalisiert & Abgeschoben

Eine Studie des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend im Jahr 2004 zur Untersuchung der „Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland“ kam zu dem Ergebnis, dass Frauen in der Prostitution einem erhöhten Maß Gewalt ausgesetzt sind bzw. Gewalt in aktuellen oder früheren Beziehungen erfahren haben [6]. 41 Prozent der Frauen gaben an, dass sie körperliche oder sexuelle Gewalt (oder beides in Kombination) im Kontext der Prostitutionsausübung erlebt haben. Somit stuft die Studie Prostituierte als hochgradig gefährdete Risikogruppe ein. Ein weiterer Zusammenhang wurde festgestellt zwischen den sexuellen Missbrauchserfahrungen in der Kindheit (43 Prozent), erlebten körperlichen Übergriffen und Gewalterfahrung in der Kindheit durch Eltern (52 Prozent) und einem späteren Einstieg in die Prostitution. Die komplexen physischen und psychischen Belastungen, Traumaerfahrungen und Folgeerscheinungen dieser Art der Gewalterfahrungen in der Prostitution sind eklatant, weitreichend und bleiben oft unentdeckt und unbehandelt. Ca. 50 Prozent der Betroffenen leiden unter Depressionen und 25 Prozent zeigen ein selbstverletzendes Verhalten. Insbesondere die Suchtmittelabhängigkeit als einen Versuch die Erlebnisse zu kompensieren zeigt den Bedarf an Hilfe und Unterstützung deutlich auf.

Der Zwang, der Frauen in die Prostitution treibt ist der Kapitalismus. Diesem Gewaltverhältnis sind alle Menschen ausgesetzt. Doch nirgendwo zeigt es sich so deutlich wie in dieser Branche. Auch wenn es verdammt schwer ist, Prostituierte dazu zu bringen, über ihre Gewalterfahrungen öffentlich zu reden, ist es ein Unding, die Lobbyvertreterin der Zuhälter als einzige Stimme der Prostituierten in dem Volksstimme-Artikel sprechen zu lassen. Das ist ein weiterer Schlag ins Gesicht der Millionen Frauen, die täglich bei der „Sexarbeit“ gegen Geld missbraucht werden und trägt dazu bei, dass diese Gewalt weiterhin verschwiegen wird.

[1] https://www.volksstimme.de/lokal/stendal/sexarbeit-die-gefahr-lauert-in-der-unsichtbarkeit/20201217

[2] https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/prostitution-interview-mit-sexarbeiterin-johanna-weber-a-930660.html

[3] https://www.volksstimme.de/lokal/stendal/urteil-bewaehrung-fuer-versuchten-totschlag

[4] https://www.volksstimme.de/lokal/stendal/20151222/prozessauftakt-betrunkener-freier-zieht-waffe

[5] https://www.researchgate.net/publication/281348842_Prostitution_and_trafficking_in_nine_countries_An_update_on_violence_and_posttraumatic_stress_disorder

[6] https://www.bmfsfj.de/blob/84328/0c83aab6e685eeddc01712109bcb02b0/langfassung-studie-frauen-teil-eins-data.pdf