Emily Williams
Im Oktober 2019 habe ich einen Twitter-Account mit dem Namen „Sexkauf ist Arbeit“ angelegt. Mit diesem Account startete ich eine „Kampagne für die Menschenrechte von Sexkäufer*innen“. Der Titel ist Satire, der Account ein Witz. Mir ist nämlich aufgefallen, dass in der Debatte um Prostitution zumindest auf der Proseite die Freier nur selten erwähnt werden. Dabei werden mit dem derzeit heftig diskutierten Sexkaufverbot die Freier mit Kriminalisierung bedroht und melden sich kaum zu Wort. Dieses Missverhältnis fand ich interessant und wollte da mal nachhaken.
Mir fehlte lange die Idee, was ich mit diesem Account erreichen wollte. Trollen wollte ich auf jeden Fall, der Account war passend. Der Titel war perfekte Provokation, mit eben jenem Inhalt, konnte das gut knallen. Ich halte Trollen für emanzipatorische Praxis. Gutes Trolling kann mehr Auslösen als engagierte Debatten. Im Grunde lief es also darauf hinaus, die Ideologie der „Sexarbeit“ so sehr zu überdrehen, dass die Absurdität der Idee von Prostitution als Arbeit deutlich hervortritt. Das Frauen sich als sexuelle Dienstleisterinnen von Männern bezahlen lassen, ist sexistischer Dreck. Prostitution ist Klassenkampf in der Verrichtungsbox: Das Kapital fickt die Armut. Um nichts an der Ausbeutung zu ändern, gilt die freiwillige Zustimmung als das gefälligere Mindset. Aus sexueller Ausbeutung armer Frauen gegen Geld, wird „Sexarbeit“. Aber wenn Prostitution Arbeit sein soll, warum dann nicht auch Sexkauf? Freier und Prostituierte haben Sex miteinander. Wenn man den „Sexarbeiterinnen“ zuhört, haben die alle Spaß dran. Warum gilt Prostitution dann als eine einseitig erbrachte Dienstleistung, wenn doch beide Seiten so geil aufs Vögeln sind? Sexualität ist Interaktion zwischen Personen, wie kommt es also dann zu einem Machtungleichgewicht, das durch Geld hergestellt und manifestiert wird? Aber wie bringt man diese Frage in die Debatte ein, ohne wie die Sprichwortsau von der eigenen Bubble durchs Twitterdorf geprügelt zu werden? Weder Freier noch Sexarbeiterinnen sind Sympathiemagnete. Um das Denken anzuregen, zog ich das Thema satirisch auf: Wenn laut Lobbysprech Frauen Spaß an der Prostitution haben, wofür zahlen dann Freier? Wenn die Sexarbeiterinnen so geil auf Sex mit mir, dem solventen Freier, sind, warum muss ich dann für was bezahlen und nicht sie mich? Wie kann also der Orgasmus der Sexarbeiterin am konsequentesten rabattiert werden? Wer leistet denn wem einen sexuellen Dienst, wenn die Prostituierte so geil auf Sex mit mir ist?
Mein Aktivismus
Meine ersten Tweets als Freier forderten mehr Gerechtigkeit im Bett, weil Konsens auch Gleichstellung beim Entgelt bedeutet. Ich forderte einen Orgasmusrabatt für Freier als Lustspender. Kommt die Teilzeitgeliebte beim Paysex auch zum Orgasmus, müsse der Liebeslohn wegfallen, denn dann hatten ja alle was davon. Meine grundlegende Überlegung dazu: Warum ist Sexwork die einzige Arbeit, in der alle Teilnehmer das Gleiche machen, aber Geld nur in eine Richtung fließt? Wer im Mainstream schwimmt – und dazu gehören heute Menschenverachtung, Sexismus, Rassismus und Zynismus – kommt gut an, Widersprechende werden als Störung des Betriebsablaufs wahrgenommen, denunziert und isoliert. Je blöder der Content, um so breiter der Zuspruch.
Twitter funktioniert als tyrannische Instanz. Twitter-Tyrannei funktioniert über Zuspruch und Ausschluss. Es gilt in der öffentlichen Diskussion via twitter, Konflikte zu vermeiden, statt sie zuzulassen und auszutragen. Wer widerspricht, wird geblockt und quasi hinterrücks denunziert: Es gibt Blocklisten, die stets erweitert und durchgereicht werden und die Fragmentierung der Gesellschaft in Meinungssektoren vorantreiben. Als Prostituionskritikerin werde ich auf twitter isoliert und ausgegrenzt. In twitter regiert das Kapital über Likes und Follower. Du kannst Likes und Follower kaufen oder sehr schnell über Sex als Content generieren. In Scharen stürzen sich Filterblasen auf dich, die dich als ihr aggressives Gruppenerlebnis beschimpfen. Als Patriarchatskritikerin bekam ich bei twitter nur den puren Hass ab. Als Freier aber konnte ich ungestört schalten und walten. Es gelang mir erst als Freier, über mehrere Monaten einen Twitter-Account zu betreiben, ohne gesperrt zu werden. Ich wurde erst als Arschloch gemocht. Um solche Macht- und Untersdrückungsverhältnisse zu erkennen und vorzuführen, muss man sich aber die Hände schmutzig machen.
Bisher folgten meinem Freieraccount nur wenige bei kaum beachteten Tweets. Es lief nicht gut. Ein guter Troll muss altern, um als authentisch anerkannt zu werden. Mehrere Monate Laufzeit sind eine Gütesiegel. Erst im Mai 2020 startete ich einen neuen Versuch, den Account einzusetzen und sendete folgenden Tweet:
Der Tweet wurde 10mal geteilt und bekam fast 50 Likes. Es war der dümmste Mist, den ich je ins Internet geschrieben habe und der erfolgreichste. Ein weiterer Tweet ähnlichen Inhalts bekam noch mehr Aufmerksamkeit:
Über 50 Herzchen bekam ich für dieses Bekenntnis, zukünftig unter diesem Account, ein sexistisches, manipulatives Arschloch zu performen. Auch die Follower stiegen ein wenig. Ich war angefixt und begann sporadisch mit anderen Lobbyaccounts zu kommunizieren, um meinem Account etwas Inhalt und ein bestimmtes Profil zu verschaffen: Alter, weißer, reicher Mann und Freier. In meinem Postfach suchten bereits junge und sehr freizügig gekleidete Frauen meine Nähe. Mein neues Leben als Womanizer fühlte sich gut an. Ich genoß die Zustimmung.
Realität vs. Satire
Nicht nur in meinem Nachrichtenpostfach ging die Post ab, sondern auch in den Benachrichtigungen zu Kommentaren. Als bekennender Freier auf twitter sind 2 Dinge garantiert: Links von Sexbots im Postfach und die devoten bis zurechtweisenden Kommentare von Sexarbeiterinnen. So wirst du ein gefälliger, chronisch zustimmender, potenzieller Freier der Kommentierenden. Die Möglichkeit der Kontaktaufnahme ist der Wink mit dem Zaunpfahl. Dann geschah das Unerwartete: Im August 2020 startete tadzio müller, Mitglied von Die Linke und Klima-Referent für die Rosa-Luxemburg-Stiftung, dann mit #IvePaidForSex #IchZahlFür6 eine eigene Kampagne für die Menschenrechte von Freiern.
Ich staunte nicht schlecht. Die Wirklichkeit überholte meine Satire. Er outete sich als Freier und rief dazu auf, seinem Beispiel zu folgen. Der Tweet wurde über 100 mal geliked und 23 Mal geteilt. Müller krepelt sonst mit deutlich weniger Likes rum. Das war die Gelegenheit, meinen Freier an den Start zu bringen. Jetzt konnte ich mich endlich „outen“ ohne aufzufallen.
Meine Timeline bestand bis dahin hauptsächlich aus Bildern, die mich zum Kauf weiterer Bilder und Videos auf anderen Plattformen animieren sollten. Für jeden Wochentag gibt es Hashtags um Fotos von bestimmten Körperteilen zu verbreiten. Diese Fotos wurden mit den immergleichen Phrasen von den immergleichen Accounts kommentiert. Es passierte dazwischen nichts von weitreichendem oder nachhaltigem Interesse. Lediglich eine Diskussion erschien kurzzeitig interessant: Es ging um den Begriff Sklave im BDSM-Kontext. Schnell wurde die Bitte nach Begriffsverzicht mit dem Verweis auf Kundenwunsch und behauptetem Konsens abgebügelt. Ich beobachtete aus purer Langeweile noch ein paar Sexbots und deren „Karriere“ und verstand twitter von Tag zu Tag besser: Sex sells. Mit freizügigen Bildern möglichst junger Frauen und eindeutigen Wünschen und Botschaften gelingt es, sehr schnell große Reichweiten zu generieren, um dann mit Links auf Pornoseiten, Paysex- oder Datingportale zahlende Kundschaft zu locken.
Die unsichtbaren Freier
In der öffentlichen Debatte um Prostitution werden die Interessen der Freier von den Sexarbeits-Lobbyistinnen übernommen, um der eigenen deutlich schwächeren Position mehr politische Bedeutung zu verschaffen. Das Interesse der Prostituierten ist die Sicherung des bisherigen Einkommens. Die geforderte Bestrafung trifft die Freier. Besitzstandswahrung hingegen ist den Freiheitsrechten nachgeordnet. Sexarbeiterinnen erklären nun, dass die Kriminalisierung auch sie trifft, weil es die Nachfrage reduziert. Über diesen rhetorischen Trick können Prostituierte die Interessen der Freier kapern. Die Folgen der Kriminalisierung von Sexkauf sind für Freier deutlich härter als für Prostituierte, aber diskutiert wird exklusiv über die nachteiligen Effekte für die Sexarbeiterinnen. Freier melden sich selbst kaum zu Wort. Bemerkenswert erschien mir die Diskrepanz zwischen dem immer wieder deutlich formulierten Wunsch nach Bekenntnissen von Freiern und den Reaktionen darauf, wenn diese Bekenntnisse weniger gefällig sind als erwünscht. Wenn der Freier sich als der menschen- und frauenverachtende Arsch entpuppt,die Freier nun mal sind, war seine Wortmeldung auch nicht gewünscht. Gesucht und gewollt wird der nette Freier, der Frauen dafür dankt, sie für Sex bezahlen zu dürfen. Statt die sexistisch-arrogante Darbietung eines Freiers, aber durchaus übliche Sicht auf Prostitution, zur Kenntnis zu nehmen, wurde meine Perspektive als unzulässig degradiert. Einen Freier wie mich wollten sie dann doch nicht in ihrer Mitte. Niemand möchte, dass Freier frei Schnauze, wie zB. in einem Freierforum, auch auf twitter reden. Freier sind in den Anekdoten der Sexarbeiteriennen stets nett, tolle Liebhaber und durch und durch sympathische Mitmenschen. Freier sind die stumme Projektionsfläche für die Schilderungen der Sexarbeiterinnen über ihr Glück in der Prostitution.Was Freier zu sagen haben, wenn man sie lässt, ist aber richtig ekelhaft. Das wissen alle. In der öffentlichen Debatte finden Freierkommentare darum nicht statt, obwohl es diese in Massen und in brutaler Frauenverachtung im Internet – z.B. Freierforen- zu lesen gibt. Aber selbst die Authentizität von Freierforen wird bestritten und zeitgleich werden diese von Lobbystrukturen als Werbeplattformen genutzt. Natürlich wissen alle, das Freier Schweine sind. Auf dem Blog https://dieunsichtbarenmaenner.wordpress.com/ werden Freier wortgenau zitiert. Ich tweetete irgendwann nur noch Kommentare aus Freierforen und zitierte aus Werbetexten von Bordellseiten und wurde als Fake denunziert.
Die sichtbaren Sexarbeiterinnen
Was die Sexarbeiterinnen selbst betrifft, sind die Inhalte simpel: Der Job ist der Hammer, die Widersprüche werden ignoriert. Jede Escort ist Akademikerin, die mit einem Fingerschnipp einen gut bezahlten, anderen Job hätte, aber diesen derzeit aus unbekannten Gründen nicht hat. Sexarbeit verschafft der Frau Emanzipation, Autonomie und Selbsterkenntnis. Die fiktive Option des gesicherten Lebensunterhalts ohne Prostitution soll die Lust und Freiwilligkeit garantieren, ist aber nie realistisch. Es ist Teil der Performance, dass Prostitution als zusätzliche Option zum gesicherten Einkommen stattfinden muss und nicht aus Geldnot oder Sachzwang. Tatsächlich haben diese Frauen aber kein anderes Einkommen und zählen sich selbst erst durch Prostitution zu den Normalverdienern. Den anderen, gut bezahlten Job auf Fingerschnipp für die Studentin ohne Berufserfahrung, halte ich für eine naive Illusion. Sie hauen sich so selbst die Taschen voll. Aber erst durch Prostitution haben diese Frauen gelernt, Nein zu sagen und sich selbst und ihre Sexualität zu entdecken. An dieser Stelle der Erzählung weine ich oft. Was ist das bitte für ein Leben, in dem Frauen erst durch Prostitution lernen, Nein zu sagen? Als Prostituierte lernen diese Frauen auch das erste Mal Wohlstand kennen und partizipieren über diese kurze Zeit der Buchung daran. Auch das Zurückhalten der eigenen Meinung und das Be-Dienen fremder Wünsche ist zentraler Teil der Performance. Frappierendes Beispiel neoliberaler Ideologie im Bereich Prostitution ist die Überzeugung, ein Sexkaufverbot müsse aus Rücksicht auf die dort tätigen Frauen unterbleiben und nicht etwa aufgrund der Profitinteressen der Vermieter und Freier, die diese infolge ihrer ökonomischen Macht auch politisch durchsetzen.
Twitter als Paysex-Werbeplattform
Twitter wird bewußt und offen als wichtige Plattform zur Werbung für Sexseiten, Paysex- und Datingportale beworben und genutzt. Sehr schnell viele Follower zu gewinnen, gelingt über die bildhafte Abbildung junger Frauen beim Angebot sexueller Verfügbarkeit. Auch im Escort wird ein Twitter-Account als Musthave erwähnt. Der Blog „Escort werden“ empfiehlt Twitter als Werbeplattform so: „Da du es schwer hast, auf Google die großen Agenturen zu schlagen, solltest du dich so noch etwas verbreitern – auf Twitter sind viele Escorts und auch viele Bucher – eine echt lebendige Community!“ Es geht darum, potenzielle Kundschaft auf sich aufmerksam zu machen und über Reichweite durch Retweets, Links und Follower Aufmerksamkeit für weitere Angebote zu generieren. Der Vorteil eines Twitter -Accounts eines Escort: Es müssen keine tiefsinnigen oder interessanten Texte entworfen werden. Allein das Verfügbarmachen von Bildern und das Nutzen von Hashtags verschafft bereits Sichtbarkeit. In der Selbstdarstellung als selbstbestimmte Prostituierte, die sich nicht aus Not sondern aus freien Stücken prostituiert, schwingt der Anspruch mit, Armut, Not und Elend als Einstiegsgründe in die Prostitution und Motivation des Verbleibs unsichtbar zu machen. Mit dem Anspruch einer kundenfreundliche Selbstinszenierung, werden kritische Stimmen denunziert und attackiert. Wer am Lack kratzt, wird gejagt. Beliebte Methode der Ausgrenzung einzelner Accounts ist das öffentliche Zuschreiben von Unglück, Einsamkeit, Asexualität, Neid und fehlender Bildung. Oft wird zuvor blockiert, damit diese widerlichen, frauenverachtenden Kommentare nicht gesehen werden. Es werden auch Blockierempfehlungen ausgesprochen, um Accounts zu isolieren. Politische Prostitutionskritik gilt dabei als faschistisch. Das eigene, liberale Lustverständnis, das eine haargenaue Kopie des Geschlechtsleben der Nazis ist und auch heute die extreme Rechte finanziert, wird als fortschrittlich und links skizziert. Das Ziel der Nazis war es nicht, Sexualität zu unterdrücken, sondern sie als Privileg nichtbehinderter, heterosexueller Arier zu etablieren. 1934 wurde bereits eine interne Anweisung an alle BDM-Führerinnen ausgegeben, die ihnen anvertrauten Mädchen zum vorehelichen Geschlechtsverkehr zu animieren. Die sexuelle Verfügbarkeit von Frauen wird bis heute als sexuelle Selbstbefreiung weiblicher Sexualität angepriesen und mündet in der permanenten Bereitschaft und Verfügbarkeit. Frauen werden wieder nach ihrem sexuellen Kapital bewertet und kaum jemanden juckt es.
Sex als Marketingsstratgie
Mein Postfach brannte schnell. Ich wurde von „Daria Sxx“ mit 24 anderen Accounts zu einer Chatgruppe hinzugefügt. Mir wurde kostenfreier Sex versprochen. Ich kenne Daria nicht, noch folge ich ihr und habe mit ihr irgendwann kommuniziert. Auch Finja, Jessika, Merle und Leighann fanden mich sexy genug, um mich auf Portale einzuladen, wo Finja dann „Fickmuschi7“ heißt und Merle mir versicherte, keine „billige Tussi“ zu sein. Auf ihrem Profil bei kisstreff könne ich mit ihr zu diesem Thema chatten. Ich sagte allem zu und tat nichts davon.
Diese Marketing-Accounts zeigen zT. in sehr großen Zeitabständen Fotos junger Frauen in erotischen und eindeutigen Posen und legen damit rasant an Reichweite zu. Bei twitter ist nicht das Alter der Fotos relevant, sondern deren Auffindbarkeit und das allgemeine Interesse. Damit Fotos und Profile gefunden werden, werden Hashtags benutzt. Besonders schnell Reichweite besorgen die Fotos junger Frauen in eindeutigen Posen. 1 Fototweet pro Monat über 5 Monate Laufzeit bringen fast 2000 Follower ein. Unter diesen Fotos findet keine Interaktion mit den durchweg begeisterten Männern statt. Die Kommentare sind von doof bis ekelhaft. Reine Textbeiträge als Tweets mit dem direkten Verweise auf einen Profillink hingegen, funktionieren nicht. Die Blöden wollen umgarnt werden.
Jede Einladung auf eine dubiose Sexseite wurde von mehreren Fotos eingeleitet. Mit verdeckter Werbung versuchen Werbetreibende, ihre Botschaften durch unkonventionelle Marketingmaßnahmen zu vermitteln. Eine der erfolgreichsten Accounts in diesem Segment ist @dichjasmin. Mit fast 38.000 Followern ist es dem Portal kaufmich.com gelungen, sehr erfolgreich und preiswert Guerilla-Marketing auf twitter zu betreiben. Der Hauptaccount von kaufmich.com bei twitter hat nur 6.000 Follower. Guerilla-Marketing ist eine innovative Kommunikationsstrategie, die von Überraschungseffekten lebt. Beim Guerilla Marketing werden kreative Ideen besonders aufmerksamkeitsstark inszeniert.
„Jasmin liebt dich“
Angeblich wird der Account @dichjasmin von einer 20jährigen Sexarbeiterin betrieben. Dabei gibt es keine Verweise auf Kontaktmöglichkeiten oder eine reale Existenz. Eine zeitlang wurden im Account @dichjasmin Bilder einer Frau mit dem Namen Katyusha Khalyushkova, aus der südrussischen Stadt Asow, verwendet. Dass es sich bei Jasmin um diese Frau handelt, kann ausgeschlossen werden. Das Besondere am Profil @dichjasmin ist der Umstand, dass sie in ihrem Account nicht auf ihr eigenes Profil bei einer fremden Prostitutionsplattform verlinkt, aber für eine bestimmte Plattform sogar Onlinesupport betreibt. Innerhalb von 22 Monaten wurde Kaufmich auf dem Jasmin-Account 93 Mal erwähnt. Keine dieser Erwähnungen ist als Werbung markiert. Der Account setzt durchschnittlich 77 Tweets pro Tag ab und postet vorallem in der Geschäftszeit. @dichJasmin ist mit ihrem Content aus Schauspiel und Marketingsstrategie durchaus erfolgreich. Berechtigte Zweifel an der Echtheit des Accounts werden als Verschwörungstheorie denunziert. Jasmin ist nämlich anders aufgestellt, als sich Unbedarfte die Sex-Branche und ihre Vertreter_innen so vorstellen. Sie verkauft sich nicht selbst, wie für Escortaccounts üblich, sondern bewirbt eine Paysex-Plattform und Prostitution als Erwerbsstrategie. Man kann die angeblich aktive Prostituierte hinter dem Account über twitter nicht buchen, auch ihr eigenes kaufmich-Profil ist nicht verlinkt. Jasmin schreibt stets positiv über angebliche Erlebnisse im Leben einer Prostituierten, bietet Einstiegsberatung in die Prostitution an und lästert ausführlich über Prostitutionskritikerinnen. Dazu teilt sie Fotos von Nachrichten aus dem Portal, die sie vermutlich als Supportanfragen erreichten.
Das Anmelden bei Kaufmich geht schnell, es wird keine Verifikation verlangt: Direkt auf der Webseite werden das Geschlecht (m, w, trans), ein Wohnort, das Alter, Größe, Gewicht, Figur, Haarfarbe und Körperbehaarung und die Körbchengröße abgefragt. Auf Kaufmich dürfen Männer keinen Paysex anbieten. Kaufmich.com wird von der SmH ServiceCenter.de GmbH mit Firmensitz in Berlin betrieben. Die Firma hat 11 bis 50 Mitarbeiter und betreibt ein Servicecenter zur Informationserteilung und Mitgliederbetreuung von Internetplattformen. Schwerpunkte liegen im Telefon- und Emailsupport von Nutzern und Mitgliedern von Dating und Social Networking Communities. Das Tätigkeitsspektrum reicht von spezifischen Produktfragen bis hin zu technischen Hilfestellungen; auch Dienstleistungen wie das Überprüfen von hochgeladenen Mitgliederinhalten.
Nach § 32 Prostituiertenschutzgesetz (ProstSchG) ist es verboten, über die Verbreitung von Schriften, Ton- oder Bildträgern, Datenspeichern, Abbildungen oder Darstellungen, die Gelegenheit zu sexuellen Dienstleistungen anzubieten, anzukündigen oder anzupreisen oder Erklärungen solchen Inhaltes in einer Weise, die nach Art der Darstellung, nach Inhalt oder Umfang oder nach Art des Trägermediums und seiner Verbreitung geeignet ist, schutzbedürftige Rechtsgüter der Allgemeinheit, insbesondere den Jugendschutz, konkret zu beeinträchtigen, bekannt zu geben. Aufgrund der restriktiven Regeln der App-Stores von Apple und Google in punkto Prostitution, ist es den Betreibern von Paysex-Portalen nicht möglich, dort eine eigene App anzubieten.
Damit sind der Bewerbung der Paysex-Angebote und einschlägiger Portale sehr enge Grenzen gesteckt. Das Nutzen von Social-Bots, Fakeaccounts und Schleichwerbung ist in der Sex-Branche durchaus üblich. Obwohl kaufmich den gezielten Einsatz des Accounts @dichjasmin bestreitet, wäre der Einsatz von Schleichwerbung über kostenfreie, angeblich personalisierte Accounts nicht nur branchenüblich, sondern der Verzicht darauf, ist höchstunwahrscheinlich.
Dein Sexleben bestimmen wir
Die Tyrannei des neoliberalen Kapitalismus ist die allgegenwärtige stumme Androhung des ökonomischen Untergangs und sozialen Ausschlusses. Eine Auschlussandrohung gilt den Frauen, die Nein zu ihrer Verprostituierung sagen. Die Tyrannei es Neoliberalismus wird nicht mit offener Gewalt aufrechterhalten, sondern von der normativen Kraft des Faktischen und seiner diskursiven Überhöhung, die noch die eigene Unterwerfung unter die herrschenden Interessen als selbstgewählt und selbstgewollt erscheinen lassen. Prostituierte kämpfen täglich ums Überleben, Sexarbeiterinnen sind politische Aktivistinnen und kämpfen gegen Prostitutionskritik um ihr Einkommen aus der Prostitution abzusichern. Sexarbeiterinnen prostituieren sich freiwillig. Geschlechter- und Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft und in der Sexindustrie werden ignoriert. Die Freier und Profiteure können auf diese Weise im Hintergrund bleiben und sich den Anschein der Korrektheit geben. Vor allem aber können sie sich via Twitter als Beschützer der reichweitenstarken Lobbyaccounts im Konfliktfall präsentieren. Störungen des alltäglichen Angebots und entsprechendes Nachfrage wird sehr übel genommen. Gegen Prostitutionskritikerinnen wird gehetzt, gelästert und denunziert. Twitter verschafft dabei eine Illusion von Macht, die in Followern gezählt wird und dem zu erwartenden Gehorsam einer wachsenden Gefolgschaft. Gerät jemand innerhalb der Filterblase in Ungnade werden die Accounts attackiert, gemeldet und denunziert. Accounts, die sich als bekennende Prostituierte dem Patriarchat unterwerfen, werden hingegen als leuchtende Vorbilder eines modernen „Feminismus“ gegen jede Kritik verteidigt. Aus Frauenhass wird nun eine moralisch aufgewertete Verteidigungsstrategie. Frauenhass hat jetzt einen Grund: Es geht nicht mehr um blanken Frauenhass sondern um die Rechte der verprostituierten Frauen. Männer verteidigen verprostituierte Feministinnen gegen andere prostitutionskritische Feministinnen, angeblich selbstlos und ohne die Absicht, die einen zu kaufen und die anderen loszuwerden. Frauen, die sich gegen ihre Warenförmigkeit und Vermarktung auflehnen, werden denunziert und ausgeschlossen. Das Recht Nein zu sagen, beschränkt sich in dieser Welt des schnellen Sex auf das Nein zu einem bestimmten Freier oder zu einer bestimmten sexuellen Praxis. Ein Nein zur Verprostituierung von Frauen, ist hingegen ein Ausschlussgrund.
Virtuelle Gefolgschaft als Macht-List
Es gibt in Deutschland keinen Zwang zu Prostitution, es gibt nur eine erdrückende Massenarbeitslosigkeit, die in Millionen Menschen die Angst wachhält, morgen selbst zu den Hungernden zu gehören und ihnen nahelegt, nur keinen Schritt vom Vorgegebenen abzuweichen. Und es gibt die wohldosierte Bekanntgabe herrschender Bedingungen, die ahnen lassen, dass die Anerkennung von Prostitution als Arbeit ein Versprechen an die Zukunft ist, das irgendwann eingelöst werden soll. Frauen bekommen via twitter dazu pausenlos erklärt, wie leicht und lukrativ der Einstieg in die Prostitution ist. Die Einstiegsvoraussetzungen sind niedrig: Frauen sollten jung, schlank, mindestens normschön, dienst- und einsatzbereit, anspruchslos und gehorsam sein. Beim Einstieg in die Prostitution hilft, den Schönheitsidealen zu entsprechen und begeistert Kundenwünsche zu erfüllen. Bereitschaft als Sexobjekt zur Verfügung zu stehen, wird mit Klicks und Herzchen belohnt. Alles klingt, als hätte es den Feminismus nie gegeben. Für Patriachatshörigkeit und Ignoranz gegen Sexismus werden Frauen mit Entgelt und Zuspruch belohnt. Sie revanchieren sich mit einem anderen „Feminismus“, der die Warenförmigkeit und Käuflichkeit von Frauenkörpern garantiert. Die rasant wachsende Reichweite der Accounts, wenn sie als Teil der Sexindustrie sichtbar sind, wird als Herrschaftsinstrument genutzt. Isolation des Accounts gilt dabei als Strafe für Fehlverhalten. So entsteht eine Art Matrix, in der Sexcontent zu Reichweite und kontextbezogener Bedeutung und Zuspruch führen und Kritik an der Vermarktung vorallem weiblicher Sexualität zum Ausschluss.
Feindinnenkultur
In den reichsten Ländern der Welt werden Millionen Menschen in eine menschenunwürdige Armutsprostitution gedrängt und kein Sturm der Entrüstung erhebt sich. Nur indem sie sich als etwas anderes präsentieren als sie sind, können Ausbeutungs- und Unterdrückungsverhältnisse dauerhaft und ohne Widerstand hervorzurufen betrieben werden. Neoliberalismus ist darauf angewiesen, die Treue zu seiner Politik und zum System durch sogenannte Sinnstiftung, Betonung von Identität und Identifizierung, also durch nachdrückliche Bewusstseinsbildung zu gewährleisten. Die Verbundenheit einer gemeinsamen Idee, lässt die für einen Moment soziale Isolation vergessen. Aus der sexuellen Gewalt gegen Frauen durch ihre Verprostituierung, wird so ein Akt der Selbstbestimmung, für den es sich gemeinsam zu kämpfen lohnt. Auch wenn viele daran weder als Kunden oder Prostituierte teilhaben. Den Denkgiften der neoliberalen Ideologie ist die Funktion zugedacht, menschliche Solidarität profitträchtig in Dienstbarkeit nach oben und Rücksichtslosigkeit nach unten zu verwandeln. Neoliberalismus zerstört die solidarischen Beziehungen zwischen den Menschen. Er zwingt uns, jene als Feinde zu betrachten, die unsere Ausbeutung beenden wollen statt unseren Ausbeutern kämpferisch gegenüber zu treten. Die Kunst der Ideologieproduktion besteht darin, einen Teil der Wahrheit für die ganze auszugeben und auf diese Weise den Anschein von Ausgewogenheit zu erwecken. Armut wird dabei nicht tabuisiert, aber die eingeräumte Winzigkeit des – meist noch als „selbstverschuldet“ dargestellten – Elends verschwindet in einem scheinbaren Meer des Glanzes. Bemerkenswert sind im Zusammenhang gegenwärtiger Entsolidarisierungsprozesse die Wandlungen feministischer Aktivistinnen, die vormals Patriarchat und Kapitalismus beseitigen wollten und heute für bessere Arbeitsbedingungen im Bordell streiten, während ansonsten alles so bleiben soll, wie es ist. Nicht Solidarität mit den Ausgebeuteten bewegt sie heute, sondern Parteinahme mit Ausbeutern und Profiteuren.Selbstbestimmte Sexarbeiterinnen kämpfen im Namen und Auftrag ihrer Freier für die Frauenrechte gegen Feministinnen. Weil Feministinnen das Elend der marginalisierte und ausgebeuteten Frauen sehen und beenden wollen. In diesem Kampf bemühen Sexarbeiterinnen altbekannte antifeministische Ressentiments, von der angeblich verklemmten Sexualität bis zum Neid und schämen sich nicht. Ein Recht der Frauen ist das Dienen. Die Emanzipation der Frauen aus patriarchaler Abhängigkeit, wird zum Angriff auf die Freiheit der Frauen dämonisiert, da es auch Frauenrecht sei, selbstbestimmt eine Dienerin des Mannes zu sein.
Fazit
Obwohl mittlerweile wirklich allgemein bekannt sein sollte, dass es Social-Bots, Fakes, Lobbyismus und Schleichwerbung gibt und wie solche Phänomene funktionieren, wird deren Existenz in der Sexindustrie immer noch ignoriert. Die Vehemenz, mit der bestritten wird, dass @dichJasmin ein Werbe- und Lobbyaccount sein könnte, verweist auf Ignoranz und Naivität. Einer dieser Accounts, um die sexuelle Ausbeutung von Frauen zu legitimieren, war eine paar Monate ich.
Aber nicht nur die Sexindustrie umgeht das Werbeverbot, zum Beispiel mit Schleichwerbung, und setzt auf politischen Lobbyismus, auch rechte Parteien nutzen subtile Marketing-Strategien. Besonders skeptisch gegen besonders gefällige, erfolgreiche oder überraschend andere Profile und Accounts zu sein, die (fast) beiläufig immer wieder konkret Bezug auf Portale nehmen und eine politische Idee unkritisch anpreisen, muss angeregt und gefördert werden. Wer einen Fake der Sexbranche erkennt, wird auch den Fakes der Neuen Rechten nicht auf den Leim gehen.