Leben im Ausnahmezustand – Wir haben ein Interview mit einer 64-jährigen Sozialarbeiterin geführt und sie gefragt, was die Corona Krise mit ihrem Leben macht. Karla kommt aus dem Ruhrgebiet und wird nächstes Jahr in Rente gehen.
Hallo Karla. Wir freuen uns, dass du Zeit für ein Interview mit uns hast. Wie geht es dir? Im Vorgespräch hast du erzählt, dass du dich im Grunde schon vor Ausbruch der Corona-Krise in Quarantäne befunden hast.
Nun ja, Quarantäne ist etwas übertrieben. Ich bin seit 8 Wochen krank und kann nicht zur Arbeit gehen. Mal vorweg: Ich freue mich über die Chance, mal etwas aus meinem Alltag erzählen zu dürfen, weil es mich aus der Isolation befreit. Zu deiner Frage: Ich habe eine Lungenkrankheit (COP-D) und als ich vor 2 Monaten mit Glieder- und Kopfschmerzen sowie einer Bronchitis zu meiner Hausärztin ging, wurde eine Grippe vermutet. Ich bekam 2 Wochen lang Cortison und eine Woche Antibiotika, doch das änderte an meinem Gesundheitszustand nichts. Ich bekam dann eine zusätzliche Medikation für meine COP-D für die Erweiterung meiner Bronchen, das hat zumindest ein bisschen geholfen. Als die Corona-Krise ausbrach, dachte ich im ersten Moment: Super, mir kann nichts passieren, hab‘ ja eh schon Grippe. Ich weiß natürlich, dass das Quatsch ist. Ich gehöre sowohl aufgrund meines Alters als auch meiner Vorerkrankung zur sogenannten Risikogruppe. Glücklicherweise hat mich mein Arbeitgeber für die Zeit der Corona Krise bei fortlaufender Lohnzahlung freigestellt. Ich weiss, dass das gerade vielen Arbeiterinnen und Arbeitern anders geht und das macht mich wütend.
Gehst du noch selbst einkaufen? Hast du Unterstützung von Famile und Freunden?
In den ersten Wochen meiner Krankheit bin ich noch selbst einkaufen gegangen, war aber ansonsten auch nur zu Hause, weil ich mich sehr schlapp gefühlt habe. Seit dem Ausbruch des Corona Virus und der verstärkten Berichterstattung in den Medien, geht mein erwachsener Sohn regelmäßig für mich einkaufen. Leider geht er nicht einmal mehr in meine Wohnung, um mich zu schützen. Er legt den Einkauf vor meine Haustür, das ist wirklich ein ganz komischer Vorgang. Aber was soll ich machen? Ich verstehe, dass man mich vor einer Infektion bewahren will, aber ich fühle mich abgeschnitten von allem, was mein Leben bisher ausgemacht hat. Meine Schulsozialarbeit, mein ehrenamtliches Engagement im Kostnixladen, meine sozialen Kontakte, alles ist weggebrochen. So ähnlich muss es sich anfühlen, im Gefängnis sitzen zu müssen. Ich freue mich immer wahnsinnig, wenn eins meiner beiden Kinder mich anruft, weil ich mich dann wenigstens für ein paar Minuten nicht mehr so alleine fühle. Heute bin ich zum ersten mal seit 2 Wochen mit einer Freundin vor die Tür und spazieren gegangen. Es war schön, aber irgendwie auch seltsam. Wir haben uns wahnsinnig bemüht 1,5 Meter Abstand zueinander zu halten und sobald sich ein anderer Fußgänger genähert hat, waren wir super angespannt. Ich weiß nicht, ob wir uns verrückt machen lassen. Manchmal kommt es mir so vor.
Gibt es andere Hilfsangebote im Stadtteil? Hast du das Gefühl gerade mehr als sonst auf deine Familie angewiesen zu sein?
Ja, ich habe von einigen Nachbarschaftsinitiativen in meinem Viertel mitbekommen und würde ich nicht selber zur Risikogruppe gehören, würde ich daran sicher auch selber partizipieren. So kann ich höchstens mal anrufen, wenn mein Sohn keine Zeit hat für mich einzukaufen. Was ich erstaunlich finde: Ich habe von diesen Angeboten einigen meiner Freunde in meinem Alter erzählt, aber von denen will keiner Hilfe von außen. Die sind vielleicht zu stolz oder schämen sich, ich weiß es nicht. Ich würde auf jeden Fall auch von „Fremden“ Hilfe annehmen in dieser Situation.
Verbindest du mit der Krise auch Hoffnung? Was sind deine Erwartungen an die Zukunft?
Ich finde die gesamte, weltweite Situation bedrückend. Allerdings war sie das auch schon vor Corona. Kriege, Armut, Hunger, ich verstehe nicht, warum die Menschen es nicht schaffen mit diesen barbarischen Zuständen Schluss zu machen. Was ich mir erhoffe, ist, dass wir die Entschleunigung, die wir alle gerade erleben, sinnvoll nutzen und uns Gedanken machen, wie wir ein gemeinsames solidarisches Zusammenleben gestalten können. Mich widert die Geldgeilheit und das Profitdenken in der Wirtschaft an. Ich denke, diejenigen, die das Gesundheitssystem in den letzten Jahren so zerstört haben, sollten nach der Krise vor Gericht gestellt werden, weil sie Menschenleben auf dem Gewissen haben. Aber das wird sicher nicht passieren.