Oberste Priorität für die Regierung Macron ist auch in Zeiten von Corona nicht möglichst effiziente Seuchenbekämpfung, sondern knallharte Klassenpolitik im Sinne des französischen Großkapitals.
Von: Fabian Lehr
Bis mindestens 11. Mai sind die Ausgangssperren in Frankreich verlängert worden. Unter ausdrücklichem Vorbehalt: Vielleicht auch erneute Verlängerung Richtung Sommer, wenn die Infektionsrate nicht stark genug gefallen sein sollte.
Die Ausgangssperre in Frankreich ist nicht vergleichbar mit den Kontaktsperren in Deutschland, auch nicht mit den schärferen Bestimmungen bspw. in Bayern. Macrons Ausgangssperre bedeutet: Niemand darf das Haus ohne triftigen Grund verlassen. Niemand darf täglich länger als insgesamt maximal eine Stunde raus. Niemand darf sich weiter als maximal 1 Kilometer von seiner Wohnung entfernen. Jeder, der das Haus verlässt, muss einen ausgedruckten Passierschein mit sich führen, in dem Personendaten, Wohnadresse, genauer Grund des Ausgangs vermerkt sind und zu welcher Uhrzeit man rausgegangen ist. Wird man ohne Passierschein aufgegriffen oder entsprechen die Angaben darauf nicht den Ausnahmebestimmungen (Zu weit vom Haus entfernt, zu lange draußen gewesen, kein anerkannter Ausgangsgrund), gibt es zunächst eine moderate Geldbuße von 135 €. Beim zweiten mal eine von mehreren tausend Euro. Beim dritten mal 6 Monate Knast.
Um dieses Passierscheinregime zu gewährleisten, sind an den Ortsausgängen Polizeicheckpoints eingerichtet. In den Großstädten ist oft alle paar hundert Meter ein Polizeiposten auf der Straße installiert, bei dem man seinen Passierschein vorweisen und prüfen lassen muss.
Im Mai geht Frankreich in den dritten Monat des kollektiven Hausarrests. In einer großen Umfrage gaben etwa 60% der befragten FranzösInnen an, unter dem Eingesperrtsein psychisch zu leiden. Besonders schlimm trifft diese Situation die offiziell 2,8 Millionen FranzösInnen, die in überfüllten Wohnungen leben. Arme Familien mit mehreren Kindern, die in viel zu kleinen Wohnungen in den Banlieus hausen. Ohne eigenes Zimmer für jeden. Oft in dunklen, feuchten Räumen, die die körperliche wie die psychische Gesundheit untergraben. Wenig überraschend wird die Ausgangssperre nach mehreren Untersuchungen umso häufiger missachtet, je ärmer ein Stadtviertel ist. Wohlhabende InnenstadtbewohnerInnen in hochbezahlten Jobs können die Isolation in ihren geräumigen, komfortablen, hellen und gesunden Wohnungen gut ertragen. Jugendliche in den überfüllten Sozialwohnungen ihrer Familien in den Banlieus nicht. Mehrfach kam es in den Banlieus schon zu heftigen Zusammenstoessen zwischen der brutal vorgehenden Polizei und Gruppen von Jugendlichen, die es nach wochenlangem Eingesperrtsein nicht mehr in den Wohnungen ausgehalten und sich mit FreundInnen im Freien getroffen hatten.
Gleichzeitig steht das Wirtschaftsleben aber keineswegs still. Anders als zumindest zeitweise in Spanien und Italien hat in Frankreich die Regierung niemals verfügt, dass nicht unbedingt für die Versorgung notwendige Betriebe geschlossen werden müssen. Die allermeisten Fabriken und Büros sind weiterhin in vollem Betrieb – und ihre ArbeiterInnen müssen weiterhin jeden Tag zur Arbeit kommen. Es ist eine abstruse Situation: Millionen FranzoesInnen sind gezwungen, jeden Morgen in überfüllten Bussen und Bahnen zur Arbeit zu fahren, acht Stunden in einer vollen Fabrikhalle oder in einem Großraumbüro Seite an Seite mit dutzenden anderen zu arbeiten und wieder mit vollen Verkehrsmitteln heimzufahren. Setzen sie sich dann aber nach Feierabend mit ein, zwei Freunden in den Park, machen sie sich strafbar und können dafür im Wiederholungsfall in den Knast wandern.
Effiziente Seuchenbekämpfung sieht anders aus. Die Zahlen zeigen den durchwachsenen Erfolg von Macrons Krisenmanagement. Mindestens 20.000 Covid19-Infizierte sind in Frankreich schon gestorben, und die Mortalitätsstatistiken in besonders betroffenen Regionen wie dem Elsass deuten darauf hin, dass es tatsächlich noch sehr viel mehr sein werden. Die Zahl der täglichen Neuinfektionen sinkt zwar, ist aber trotzdem die höchste aller EU-Staaten. In Ostfrankreich waren die Krankenhauskapazitäten wenige Wochen nach Ausbruch der Epidemie so überlastet, dass die Armee in aller Eile Behelfslazarette aufbauen und Schwerkranke nach Deutschland und in die Schweiz ausgeflogen werden mussten, wo es noch freie Intensivkapazitaeten gab. Der bürgerliche Staat versagte bei der Eindämmung der Seuche in der Anfangsphase des Ausbruchs noch eklatanter als in den meisten anderen europäischen Ländern.
Wochenlang sah man der Ausbreitung der Krankheit passiv zu aus Angst, durch großangelegte Präventionsmaßnahmen der Wirtschaft zu schaden. Als sich klar abzuzeichnen begann, dass die Epidemie die Dimension einer nationalen Katastrophe annehmen würde, zeigte sich, dass der Staat nicht im Entferntesten auf eine solche Lage vorbereitet war.
So hatte man bspw. anlässlich der schließlich relativ glimpflich verlaufenen Schweinegrippepandemie 2009/10 Millionen Schutzmasken angeschafft und beschlossen, diese Masken als nationale Reserve für die nächste Pandemie aufzubewahren und regelmäßig zu erneuern. Nun zeigte sich: Diese Reserve existiert nicht mehr. Sie war nicht mehr erneuert und die alten Bestände vernichtet worden, um zu sparen. Zur Bemäntelung des hoffnungslosen Mangels an Masken verkündete die Regierung in den ersten Wochen der Pandemie gegen besseres Wissen, Masken seien ohnehin wirkungslos.
Auch die Testkapazitäten angemessen zu erhöhen brachte die Regierung bis heute nicht fertig. Die Testrate in Frankreich ist immer noch dreimal niedriger als in Deutschland. Anderes großes Problem: Der Mangel an Intensivkapazitäten und besonders an Beatmungsgeräten als Resultat des neoliberalen Sparkurses im Gesundheitswesen. In Frankreich gibt es 11,6 Intensivbetten pro 100.000 Einwohner (Deutschland: 29,2) – im Elsass bald schon viel zu wenig, um die Masse schwerer Fälle versorgen zu können. Teils wurde eine Selektion nach Alter vorgenommen: Keine Beatmung mehr für PatientInnen über 80.
Der Verdacht liegt nahe, dass Macron durch die drakonische Härte der Ausgangssperre (Die medizinisch gar nicht geboten ist. Infektionen im Freien sind außerhalb dichter Menschenmengen sehr unwahrscheinlich, am Arbeitsplatz dagegen eine sehr reale Gefahr) vom spektakulären Scheitern seiner Regierung in der Eindämmung der Epidemie ablenken will. Den Menschen quasi jede Freizeit außerhalb der Wohnung zu verbieten hat – im Gegensatz zur Stilllegung möglichst vieler Betriebe – zwar offensichtlich nur mäßige Wirkung auf die Ausbreitung der Seuche, erweckt aber den Eindruck, dass der Staat entschlossen und kompetent handle und die Lage schon im Griff habe. Gleichzeitig gibt der Ausnahmezustand Macron die willkommene Gelegenheit, jeden Widerstand gegen sein radikal neoliberales Programm ausschalten zu können. Die Gelbwestenbewegung gegen den „Präsidenten der Milliardäre“ brachte Frankreich 2018/19 an den Rand einer revolutionären Situation. Nun sind vorerst nicht nur die Gelbwesten mattgesetzt, jede Art von politischer Kundgebung ist verboten. Unter dem Schirm des Ausnahmezustandes wurden eine Reihe von weiteren Verschlechterungen für die ArbeiterInnen durchgepeitscht: Verlängerung der zulässigen wöchentlichen Höchstarbeitszeit. Verkürzung der minimalen Ruhezeit zwischen zwei Schichten. Zwang für einen großen Teil der ArbeiterInnen, ihre Urlaubszeiten während des shutdowns zu verbrauchen. Als einzigen Ausgleich für all diese Härten gibt es geringe finanzielle Trostpflaster wie einen Zuschuss von 150 Euro für die ärmsten Haushalte.
Oberste Priorität für die Regierung Macron ist auch in Zeiten von Corona nicht möglichst effiziente Seuchenbekämpfung, sondern knallharte Klassenpolitik im Sinne des französischen Großkapitals. Das umso mehr, als auch das französische Kapital dabei ist, in die schwerste Rezession seiner Geschichte einzutreten. Mit der Massenarbeitslosigkeit und der allgemeinen Verarmung wird auch der Protest der französischen Massen gegen Macron und seine Millionärsfreunde in verdoppelter Schärfe zurückkehren. Dafür schon einmal die passenden Repressionsgesetze an der Hand zu haben kann nicht schaden. Die Regierung Hollande verlängerte den nach den Pariser Anschlägen erlassenen Ausnahmezustand mehrere Jahre lang – und nutzte ihn nicht zur Terrorismusbekämpfung, sondern zur Kriminalisierung von ArbeiterInnenprotesten. Dass die Regierung Macron angesichts der heranrollenden gewaltigen gesellschaftlichen Erschütterungen ihren Ausnahmezustand freiwillig früher beenden wird, mag bezweifelt werden.